Die
Dialektik der Befreiung:
Norman O. Brown
und Herbert Marcuse
Während sich Airplane und Buckley als zwei zu ihrer Zeit gar
nicht so explizit antagonistische Versionen von Hippie- Gemeinschaftsverständnissen
gegenüberstehen, streiten Herbert Marcuse und Norman O. Brown über
Revolutionsvorstellungen. Ebenso wie der Philosoph Brown, der vor allem
für die kalifornischen Hippies eine Rolle gespielt hat, weitgehend
in Vergessenheit geraten ist, ist wohl wenig bekannt, dass Marcuse, Jahre
bevor er in der BRD als geistiger Vater des .Terrorismus gehandelt wurde,
sich schon im Los Angeles der 60er den Ruf eines "Rattenfängers.
der aufständischen Jugend" (Time) eingehandelt hatte. In «Ciry
of Quartz» schreibt Mike Davis, "der letzte Dialektiker im
Lotosland" sei zunächst fatalerweise von der Kulturindustrie
"gurufiziert"; später dann aber als Mode von gestern abgestempelt
worden. Sowohl Herbert Marcuse als auch Norman O. Brown hatten jedoch
zur Hochzeit der US- amerikanischen Hippiebewegung einigen Einfluss. Obwohl
beide Marx und Freud "zusammendenken" und damit vom orthodoxen
Marxismus ausgegrenzte Bereiche wie Mythen, Träume, Visionen in ihre
Theorien integrieren, unterscheiden sie sich deutlich in ihren Befreiungsvorstellungen.
Geht Marcuse vom Primat sozialer Verhältnisse aus. so ist es für
Brown der "schöpferische Geist", in Gestalt der Poesie,
der die Revolution in Gang setzen soll. "Mein Freund Marcuse und
ich", schreibt Brown in Reaktion auf eine Kritik' Marcuses an .einem
1966 erschienenen Buch »Love's Body, «Romulus und Remus«,
die sich streiten: wer von ihnen ist der wahre «Revolutionär»
Theodore Roszak bringt die unterschiedlichen Ausrichtungen von Marcuse
und Brown auffolgende Formel:
WennMarx lehrt, dass von Politik zu reden heisst, von Klasseninteressen
zu reden, wenn Marcuse lehrt, dass von Klasseninteressen zu reden heisst,
von Psychoanalyse zu, reden, dann lehrt Brown, dass von Psychoanalyse
zu reden heisst, mit der Diktion pfingstli- cher Zungen zu bezaubern.
Pfingsten, das ist innerhalb des Brownschen Universums einer finalen Vereinigung
aller mit allem die geglückte Zusammenfiihrung von Freud und Marx
und Papst Johannes und Nietzsche und Blake, die in einem ozeanischen Gefuhl,
in einem "Meer von Energie und Trieben", die ganze Menschheit
umfassensoll, ohne Untersçheidung von Rasse, Sprache oderKultur.
Der Gott des BrownschenPfingstfestes ist Dionysos. Allein die Poesie habe
die Fähigkeit, so Brown, eine mj·sti-sche Revolution in Gang
zu setzen, die in der Lage sei, die Kultur grundlegend zuerneuern. Uber
sie führe de; Königsweg zum nicht mehr vom historischen 8allast"behinderten",
sich in der euphorischen Bejahung einer visionären Apokalypse rea-lisierenden,
letzten "Übermenschen". In seiner Antwort auf Marcuse schreibt
Brown:"Der nächsten Generation muss gesagt werden, dass der
wahre Kampf nicht der politi-sche Kampf ist, sondern dass es darum geht,
der Politik ein Ende zu machen. Von der Politik zur Metapolitik. Von der
Politik zur Poesie. Die Gesetzgebung, das ist weder Politik noch Philosophie,
sondern. Poesie:Poesie, Kunst ist nicht die sekundäre Widerspiegelung
eines anderen (politischen, ökonomischen) Bereichs, der "das
Wahre" wäre,noch die Sublimierung von etwas anderem,das das
"wahre Handeln" wäre, noch die Sublimierung von etwas anderem,
das der "wahre", leibhaftige "Akt" wäre. Poesie,
Kunst, Phantasie, der schöpferische Geist ist das Leben selbst; die
wahre revolutionäre Kraft, die die Welt verändert, die den menschlichen
Leib verändert. Den menschlichen Leib verändern: hier ist der
Wendepunkt (...)."
Marcuse dagegen insistiert in seiner Kritik ("Mystifizierung der
Liebe") an Norman O: Brown auf der Veränderung. der konkreten
sozialen Verhältnisse, die von der Entfaltung einer "ästhetischen
Produktionskraft" zur Neugestaltung der Gesellschaft nicht zu trennen
sei. So muss ihm zufolge zwar auch die Rede des Dichters festgelegte Bedeutungen
untergraben, aber auch "das Unmögliche in das Mögliche,
das mÿstische Absurde in das reale Absurde, die "metaphysische
Utopie in die historische
Utopie, die Wiederkunft in die Ankunft, Erlösung in Befreiung umsetzen",
um nicht nur Kunst, sondern Teil der Revolution zu sein. Brown, so wirft
Marçuse ihm vor, beziehe sein Konzept eines vereinigenden
"erotischen Wirklichkeitssinns" eben nicht mehr auf die historische
Realität und sei daher nicht nur mystifizierend, sondern auch revolutionsuntauglich.
So, wie es nicht' darum ginge, Rationalität zu negieren, sondern
darsxm, sie durch eine andere zu ersetzen, ginge es nicht um eine totale,
sondern um eine kritische Vision. Marcuse hat in seinem 1969 verfassten
Versuch über die Befreiung das Aufkommen einer "neuen Sensibilität"
als politischen
Faktor begrüsst und auf die neuen Protest und Verweigerungsformen
der "jungen Intelligenz" hingewiesen: "Miniröcke gegen
Apparatschiks, Rock'n'Roll gegen sowjetischen Realismus" Wie weit
er seine Hand näch Woodstock ausgestreckt hät, wird auch in
seiner Bewertung von Hippie-Sprachcodes deutlich, die er für eine
neuartige subversive Signifikationspraxis hielt. In einer Fussnote schreibt
er: "Wenn zum Beispiel die höchsten Beamten des Staates oder
Landes nicht Präsident X oder Gouverneur Y genannt werden, sondern
Schwein X oder Schwein Y und wenn das, was sie in Wahlreden hervorbringen;
mit ."grunz, grunz" wiedergegeben wird, dann wird diese beleidigende
Titulierung gebraucht, um ihnen die Aura von öffentlichen Beamten
oder Führern, die nur das gemeinsame lnteresse im Sinn haben, zu
entziehen." Den Einbruch des Ästhetischen ins Politische sieht
Marcuse auch in`der buchstäblichen "Flower Power", einer
Umkehrung des Sinns im Akt, Bullen Blumen zu schenken.
Doch gehen seine Ansichcen tendenziell eher in die Richtung William S.Burroughs',
der, von Daniel Odier auf die Love & Peace-Botschaften seines Freundes
Allen Ginsberg angesprochen, bemerkte, die beste Methode, einem Bullen
Blumen zu überreichen; sei immer noch die: in einem Blumentopf aus
einem möglichst hoch gelegenen Fenster. Trotz ihrer weitreichenden
Differenzen in der Frage; wie 'die Befreiung zu denken sei, gibt es eine
Stelle in Browns Love's Body, der Marcuse in seiner Kritik begei- stert
zustimmt: "Vom .Tempel zum Leib gelangen heisst, den Leib als den
neuen Tempel verstehen, den wahren Tempel. Das Haus ist eine Frau, und
die Frau ist ein Haus oder ein Palast (...) Das Land ist eine Frau, das
jungfräuliche Land; und die Frau ist ein Land, mein Amerika, mein
Neufundland." Dazu Marcuse: ·"Das ist es. Die Frau, das
Land ist hier auf Erden, kann hier auf Erden gefunden werden, lebend und
sterbend, weiblich fiir männlich, unterschiedlich, speziell, Spannung,
die erneuert werden muss, die Romeos und Don Juans, das Selbst und ein
anderer, dein oder mein, Erfullung in der Entfremdung. Keine Eucharistie,
keine Kreuzigung, keine Auferstehung, kein Mystizismus. Diese Frau finden,
dieses Land befreien (...). Überall, sogar in eurem eigenen Land,
das noch nicht gefunden, noch 39 nicht frei ist, gibt es solche, die diese
Arbeit tun, die ihr Leben einsetzen - sie kämpfen den wahren, den
politischen Kampf." Beide treffen sich in ihren Projektionen auf
die "Frau", allerdings in unterschiedlicher Weise. Bei Marcuse
wird sie zur Gärantin seines Materialismus. Bei Brown erwartet sie
als Haus/Tempel/Land die Insemination durch den Dichter/Gott. Sein Umbauverfahren.der
Menschheit hin zu einem vereinigten Übermenschheitsleib funktioniert
über. das Verspritzen von Wortsamen; Vereinigung als Vergöttlichung
ist hier vor allem die Hochzeit des male couples.
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