TINO - Die Geschichte des Verlausten-Königs

"Wenn ich wollte, würde und könnte ich mit einer Bande von fünfzig guten Leuten in unserem Schweizerländlein ein Chaos anrichten, dass die Jungen Linken anschliessend mit Leichtigkeit den Umsturz der Regierung schaffen würden. Aber ich kann auch warten und brauche nur am richtigen Ort und bei den richtigen Leuten zu erklären, dass bei uns die Zivilisation nicht dieselbe ist wie in Südamerika und nicht nach dem Vorbild der Tupamaros gearbeitet werden kann... Ich möchte Clown werden, nur müsste ich vor hundert Jahren gelebt haben."

Diese Sätze stammen aus dem Tagebuch des Rockers Tino und wurden nach dem Neujahr 1973 in der Strafanstalt Regensdorf verfasst. Tino, auch ein 68er, war bereits zu seinen Lebzeiten eine "Legende". - aufgezeichnet von Martin Meier

Eine böse Geschichte:

«In der Nacht auf den Samstag, 25.September 1971 besammeln sich an der Zähringerstrasse im Zürcher Niederdorf gut zwei Dutzend Leute, Barmänner aus den Innenstadtkneipen und ihre Freunde. Sie steigen, in ihre Autos und fahren an die Wehntalerstrasse 371/372 im Aussenquartier Neu-Affoltern. Das Haus ist vergammelt; demnächst soll es abgerissen werden. Die aussteigenden Gestalten hetzen zum Eingang, verschaffen sich gewaltsam Zutritt und jagen die 15 Männer und vier Frauen im Hause in den strömenden Regen hinaus. Die Männer müssen ihre Kleider ausziehen, stehen schlotternd in den Unterhosen da. Die Kleider werden auf einen Haufen geschichtet, angezündet, und die Überraschten werden gezwungen, ums Feuer zu tanzen.» So etwa schilderte die als seriös geltende Neue Zürcher Zeitung den Vorfall. Gemäss der Basler Nationalzeitung (heute Basler Zeitung) mussten die ärmsten "wie Indianer jaulend um das Feuer hüpfen " und ein Kommentator in der ehemaligen "Tat" liess sie gar "auf den Knien um das Feuer rutschen". Aufgebrachte Nachbarn alarmierten die Polizei, die aber erst eintraf, als der Spuk sich bereits aufgelöst hatte. Schliesslich rückte die Feuerwehr nach und löschte das Feuer oder was davon noch übrig war. - So die offiziellen Verlautbarungen.
Gemäss einem längeren Artikel von Roman Brodmann, der etwas später in der Weltwoche erschienen ist, sassen die Polizisten seit Beginn der Aktion ganz in der Nähe in ihren Volvos und schauten grinsend zu.
Die männlichen "Opfer" des Anschlags, waren Mitglieder einer Rockergruppe, den "Black Eagles", und hatten in den vergangenen Wochen Vergnügen daran gefunden das Niederdorf zu terrorisieren. Nachtvögel und Passanten wurden auf der Strasse um einen lockeren Stutz, einen lustigen Zweier oder eine müde Schnecke angequatscht, damit sich die Freunde ein Bierchen oder einen Most genehmigen könnten, ansonsten sie die Fäuste aus den Taschen nehmen müssten, und das sei doch wirklich schade bei einem so schönen Gesicht. Gingen die derart Angesprochenen nicht darauf ein, kassierten sie tatsächlich eine linke Gerade oder einen rechten Schwinger.
Das Attentat hatte den Vereinsmonturen der "Black Eagles" gegolten. Ich weiss nicht, ob man einen Rocker schändlicher beleidigen kann als so. Und diese Beleidigung war sehr gezielt erfolgt. Der erstaunte Zeitungsleser vernahm nämlich, die Barmänner seien ihrerseits von Rockern handgreiflich unterstützt worden und zwar von keinen Geringeren, als den "Hells Angels" persönlich, die unter der Leitung des legendären Zürcher Verlaustenkönigs Tino standen.
Roman Brodmann erzählt in seinem Artikel von einer "Audienz" , die ihm Tino, dank hilfreichen Vermittlern, in der Milieubar Wellenburg gegeben habe, und vom Respekt der diesem "Lederpopanz" von den anwesenden Gästen und vom Wirt gezollt worden sei.
Im Verlaufe des Gesprächs erklärte er Brodmann die Strafaktion:
Die "Eagles" hätten einfach zu viel Mist gebaut; hätten Kindern, die zum Einkaufen gingen das Geld abgenommen, die Leute angepöbelt und sogar einmal einen alten Mann zusammengeschlagen. Ein "Angels" sage zum Beispiel zu einem Passanten "gib mir einen Zweier, ich will ihn versaufen, du kriegst ihn nicht wieder". Er sage aber nicht: "Gib mir einen Zweier, sonst schlag ich dich zusammen."
Das Ganze ist insofern recht zwielichtig, als den "Hells" nachgesagt wurde, sie hätten sich zu den Herren der Gasse aufgeschwungen, stünden im besten Einvernehmen mit der "ZZZ", der Zürcher Zuhälter Zunft, wären selbst Zuhälter geworden und würden von den Niederdorf Wirten "Schutzgelder" in der Art der Mafia kassieren, damit deren Lokale von ihnen in Ruhe gelassen würden.
Seit sie sich zudem an Pop-Festivals und Konzerten als Ordnungskräfte dingen liessen, hatten sie sich auch das traditionelle Wohlwollen, das sie bei Teilen der neulinken Szene genossen, etwas verschaukelt.
Aus den "Vertrampten", die sich in Tinos "Banden" gesammelt hatten und Seite an Seite mit der Protest-Jugend für eine bessere Welt kämpften, waren unversehens zweifelhafte Gestalten geworden, vor denen es manch bravem Linken grauste.
Auf der Ebene der marxistischen Terminologie waren sie über Nacht keine "kämpfende Randgruppen" mehr, sondern wurden zum "Lumpenproletariat" gezählt, das sich bekanntlich durch seine "schwankende" Stellung im Klassenkampf auszeichnet und zudem wegen seines garstigen Aussehens die Arbeiter, die im linken Bewusstsein immer mehr an Bedeutung gewannen, kopfscheu machte.

Was war geschehen?

Die Revolutionseuphorie des 68 war unter den Knüppelhieben von Zürichs Polizei gedämpft worden die Jugendbewegung war aus ihrer "antiautoritären Phase" gerutscht und begann sich allmählich in hitzigen Debatten über die lang- und mittelfristigen Perspektiven der Revolution in die Haare geraten. In den Zeiten der Revolte waren Tino und seine Haudegen sehr gefragt, aber was nun, als sich alles wieder beruhigt hatte, die Bewegung in Individuen aufgelöst war und jeder sich, seiner Arbeit und seinen alltäglichen Problemen nachzugehen begann.
1969 und 1970 kam es in Basel noch zu je einem schweizerischen Untergrund-Treffen, an dem sich die Rockers um Tino beteiligten, aber immer mehr wurden sie auf ihre eigene Existenz als Gruppe zurückgeworfen, da sie den Individualisierungsprozess, der notgedrungen auch eine gewisse Reintegration in die verhasste "Füdlibürgerordnung" mit sich brachte, weder mithalten konnten, noch wollten.
So kam es denn auch zu der Umwandlung der alten "Lone Stars Gang" in die "Hells Angels". Die Zersplitterung vorausahnend, suchte Tino nach neuen Verbündeten, reiste bereits 1968 nach Kalifornien und wurde nach einigen Monaten in die dortigen "Hells Angels" aufgenommen. Nach seiner Rückreise gründete er unter dem Patronat eines mitgereisten kalifornischen "Angels" das erste kontinentale "Hells Angels" Chapter.
Mit dem Potential an überschüssigen Kräften, das die alten Krieger mit sich herumschleppten, war es ihnen natürlich schnell gelungen, sich im Milieu des Niederdorfs zum gefürchteten Gegner emporzuschwingen. Das Milieu übt aber gewisse Sogwirkungen aus, denen sich auch Tinos Haufen nicht entziehen konnte. - Alte Freunde begannen sich von ihm und den "Angels" zu distanzieren, oder die Kontakte verloren sich allmählich: bald wussten sie nur noch Pfarrer Ernst Sieber hinter sich, der neben seinem Pfarramt in Zürich Altstetten in der Stadt eine Obdachlosenarbeit aufgebaut hatte. Sieber überzeugte sie zu punktuellen Hilfsaktionen bei den Bergbauern und führte mit ihnen ein vierwöchiges Lager am Sihlsee durch, während dem ein altes Haus renoviert wurde.
Der durch seine Unkonventionalität "populär" gewordene Pfarrer hielt zu ihnen und glaubte fest daran, mit Gottes Hilfe und der Toleranz der Behörden, ihre Kräfte zum Guten umbiegen zu können. Das Ganze begann auch ziemlich vielversprechend, es war ihm nämlich gelungen, den von Abbruchhaus zu Abbruchhaus squatternden "Angels", die Notunterkünfte im sogenannten "Helvetiaplatz-Bunker" als vorläufige Bleibe zur Verfügung zu stellen.
Doch es kam anders.
Die eingangs geschilderte Strafaktion gegen die "Black Eagles" sollte sich als "Bumerang" erweisen. Sie bildete den Auftakt zu einer grossangelegten Kampagne von Presse und Behörden gegen die Rockers überhaupt, die aber letzten Endes vor allem die "Hells Angels" empfindlich traf.
Nach diesem Ereignis begannen sich plötzlich die Kommentatoren in den Tageszeitungen die Finger wund zu schreiben. "Wie soll das enden?" und "Unzulässige Selbsthilfe!" waren die Titel und von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" war die Rede. Angesprochen waren dann auch die Polizei und die Behörden; die es soweit hatten kommen lassen und die "Progressiven", die die Saat gesät hätten, die jetzt aufgegangen sei; indem sie die "armen Burschen" jahrelang gepflegt und gehätschelt hätten.
Die Polizei erklärte händeringend, sie könnte von Gesetzes wegen nichts gegen die Rockers tun, sie könnte erst einschreiten, wenn diese im Verdacht bereits begangener strafbarer Handlungen seien und diesbezüglich würde das Möglichste unternommen.
Aber schon Tage später, begann das Gezeter seine Früchte zu tragen ...
Die Polizei veröffentlichte an einer Pressekonferenz einen Untersuchungsbericht über die Verbreitung von Rocker-Gruppen und ihre Straftaten. Mit harten Zahlen konnte Rechenschaft abgelegt werden: stolze 10 Gangs, die etwa 120 Leute umfassten, würden im Kanton Zürich ihr Unwesen treiben.
Darauf überprüfte der Stadtrat die Lage und stellte fest, dass in städtischen Liegenschaften - im erwähnten "Bunker" von Pfarrer Sieber und in einer Altliegenschaft an der Hofwiesenstrasse - Rocker logierten. Auf Jahresende wurden die Liegenschaften den Rockers gekündigt.
Noch im Dezember des auslaufenden Jahres holten dann Polizei und Bezirksanwaltschaft zum Präventivschlag aus: Bezirksanwalt Dr. Marcel Bertschi - der heutige Staatsanwalt, und der Chef der Sittenpolizei, Kommissar Robert Schonbachter, führten im "Helvetiaplatz-Bunker" eine Razzia durch, bei welcher 17 Angehörige und Kandidaten der "Hells Angels" festgenommen wurden. Grund dazu war eine Anzeige, von zwei Mädchen, die in den Bunker verschleppt und vergewaltigt worden seien.
Damit war das Ende der alten "Angels" praktisch besiegelt. Im nachfolgenden Frühling wurden sechs ihrer Leute vor Geschworenengericht zu durchschnittlich 2 Jahren Gefängnis verurteilt und eine vor Obergericht zu einem Jahr. Ob sie der vorgeworfenen "Freiheitsberaubung und Notzucht" tatsächlich schuldig waren ist ein Kapitel für sich. Dass die Angels sich natürlich jederzeit zu Sex-Orgien hinreissen liessen, war durch ihre eigenen Reden und Erzählungen weitherum bekannt. Das wusste auch jedes Mädchen, das sich mit ihnen einliess. Und viele drängten sich ihnen geradezu auf. Oft wurde vor aufgebrachten Eltern und eifrigen Polizisten aus den sexuellen Entdeckungsreisen der Töchter "Vergewaltigungen" konstruiert, die von den bedrängten, meist minderjährigen Mädchen, unwidersprochen blieben.
Was in den gerichtlich behandelten Fällen nun tatsächlich geschehen war, ist kaum rekonstruierbar. Auf jeden Fall gaben diese Fälle den Behörden die Legitimation für ihr schonungsloses Vorgehen. Eine Horde besoffener "Angels" ist anderseits aber auch zu manchem fähig. Auf jeden Fall plädierte des als Zeuge vorgeladene Pfarrer Sieber, der die Angeklagten wohl am besten kannte, auf Milde des Gerichtes, wenn den jungen Leuten "ein Aufbruch zu neuen Ufern" nicht zum vorneherein verunmöglicht werden sollte.
Tino, der am fraglichen Abend nicht anwesend war, hatte sich zur Zeit der Prozesse, ins Ausland abgesetzt. Er war bereits wegen Diebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung (er hatte zwei Polizisten zusammengeschlagen) und anderer Delikte zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt worden und es drohten ihm zudem neue Verfahren.
Am 8.Juni 1972 wurde er im Libanon unter der Beschuldigung des "illegalen Waffenbesitzes", und der Spionage zu Gunsten von Israel, verhaftet, gegen Kaution aber bald wieder freigelassen. Erzählungen nach soll Tino mit libanesischen Soldaten in eines seiner üblichen Saufgelage geraten sein, das in einem "Kasernensturm" - allen voran Tino auf dem Motorrad - einen etwas unglücklichen Ausgang genommen hatte.
Wieder auf freiem Fuss, setzte er sich nach Griechenland ab, wo er in Athen erneut verhaftet und in Auslieferungshaft gesetzt wurde. Am 20.November 1972 wurde er nach Zürich überführt und in Regensdorf inhaftiert.

"Es ist uns klar, dass wir eines Tages abgeknallt werden; und wir sagen beim Abkratzen: 'Gut nicht im Bett verrecken zu müssen'. Wir sind die Herren auf der Welt und werden's beim Satan noch sein, auch wenn's dem Teufel nicht gefällt, so heizen wir uns selber ein. Engel der Hölle! Besser in der Hölle zu herrschen, als im Himmel zu dienen: Hells Angels - Freiheit, Wahrheit, Menschlichkeit, Brüder. He, du Spiesser. Höre mal ein bisschen zu, ich werde dir etwas sagen: Ich, Tino, Pres. of H.A.M.C.C.H. habe Jahre und Energie in eine Gruppe gesteckt und etwas bewiesen, das stärker ist als Gewinn, Gesetzbuch, Pein, Strafe und manchmal mindestens so stark wie richtige, ehrliche Liebe. Unsere Wertmassstäbe waren und sind weit härteren Belastungen ausgesetzt. Bürger, nie wirst du verstehen, weil du es nie erlebt hast, einmal einen wahrhaftigen, wirklichen Freund und Bruder zu haben."

Tino 1973 (Tagebuch in Regensdorf)

"Hells Angels - dieser Name war für ihn wirklich heilig: Wobei er ihn immer 'sehr nett' erklärt hat. Das Leben in unserer Zivilisation könne man häufig als Hölle empfinden, aber man müsse versuchen, denen gegenüber, die man gerne habe irgendwie gut und anständig zu sein. Das Verdienst der Hells Angels sei es, dass sie den Vertrampten gezeigt hätten, dass man in der grössten Hölle wie ein Engel leben könne."
Sergius Golowin (im Gespräch)


Die Hells Angels gewannen vor allem in den 60er Jahren in Kalifornien an Grösse, Publizität und Auftrieb, gehen aber auf eine Lebensweise zurück, die Ende des zweiten Weltkrieges anfing. Kriegsveteranen begannen nach ihrer Rückkehr mit Motorrädern in wilden Horden das Land zu durchstreifen, sei es, weil sie keinen Job fanden, sei es, weil sie sich nicht mehr an das Alltagsleben anpassen konnten. Die erste Gruppe - in den USA nennt sich das "Chapter" - die diesen Namen trug, wurde 1950 in Montana gegründet. Einige der amerikanischen "Angels" führen ihren Namen auf ein berühmtes Bomberschwadron zurück, das im I. Weltkrieg in der Nähe von Los Angeles stationiert war, diesen Namen trug und dessen Mitglieder jede Minute, die sie nicht in der Luft verbrachten, mit ihren Motorrädern wild in der Gegend herumfuhren. Andere wiederum führen "Hells Angels" auf einen 1930 entstandenen gleichnamigen Fliegerfilm mit Jean Harlow zurück, der von Howard Hughes, der auch Regie führte, produziert worden war.
In den späten 60er und frühen 60er Jahren begannen hierzulande, ausserhalb der bestehenden Jugendorganisationen und Treffs, Jugendbanden zu entstehen, die sich meist, durch auffällige, gegen den Strich der jeweiligen Erwachsenenmode laufende Kleidung, eine Vorliebe für den Rock 'n' Roll des Elvis Presley, Alkoholexzesse, handfeste Auseinandersetzungen und ein enormes Zusammengehörigkeitsgefühl auszeichneten. An Gartenfesten, auf Jahrmärkten und Rummelplätzen, die sie mit Vorliebe in der Gruppe besuchten, kam es oft zu Schlägereien. für die "entrüstete Öffentlichkeit" in Zürich waren die Keilereien, die mit schöner Regelmässigkeit an den Zürcher Knabenschiessen stattfanden, alljährlicher Anlass, das Problem durchzukauen. Der letzte Stunk fand zwar bereits 1962 statt, was aber die Lokalberichterstatter nicht daran hinderte beinahe mit einem tränenden Auge, den Satz wider Erwarten ist es diese Jahr zu keinen handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Halbstarken gekommen, in allen möglichen Variationen zu wiederholen..
Tino muss in diesen frühen Jahren bereits einen Vorgeschmack von diesen Jugendbanden erhalten haben. Einige Erzählungen weisen auf eine "Al Capone Gang" zurück, andere auf "the Revengers ".
1962 wurde in Zürich die "Lone Stars" Gang, Tinos spätere Bande gegründet. Zu dieser Zeit hat er in Basel Matrose gelernt, sein Beitritt zu den "Lone Stars" erfolgte erst 1966.
Der Aufbruch der Jugendlichen, der Hippies, Beatniks und Studenten in der Mitte der 60er Jahre gegen System und Establishment, verschaffte natürlich auch den Jugendbanden Auftrieb.
Der vom Protest erfüllte Geist der Zeit verhalf auch den ausgestossenen und "vertrampten" Jugendlichen ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Amerikanische Rockerfilme wie "Wild Angels" und "Born Losers" bereicherten die heranwachsende Kultur mit neuen Versatzstücken. Ebenso der legendäre "Easy Rider". Dabei gings weniger um Nachahmung, sondern um ein "Sich-gespiegelt-sehen" oder eine Adaption von Details in ein neues Ganzes. Dass in "Born Losers" die gleichnamige Rockerbande als ein Haufen von faschistoiden Schweinen dargestellt wurde, hinderte beispielsweise 3 oder 4 Motorradfahrer aus dem Zürcher Unterland nicht daran, ihrem Club diesen Namen zu geben. Das Rockertum, das in der Schweiz in den 60er Jahren entstand, auf eine endgültige, gar amerikanische Formulierung zu bringen, ist ebenso unmöglich, wie eine feste Lehre des Voodoo aufzustellen.
Drei Dinge waren allerdings mit der Zeit auch für das hiesige Rockertum bestimmend:
Erstens die Kameradschaft um jeden Preis; einem Rocker, der in Schwierigkeiten war, wurde geholfen, koste es, was es wolle.
Zweitens gehörte zu einem Rocker ein Motorrad, allerdings keine schnittige Rennmaschine, sondern ein möglichst wild gebauter Feuerstuhl, auf dem man sich aufrecht sitzend, dem Wind entgegen stellen konnte. Ideal war eine alte "Indian" oder eine "Harley Davidson ".
An dritter Stelle erst kamen die Mädchen. Sie waren zwar stets willkommene Gäste, konnten aber selbst nicht in die Bande aufgenommen werden.
Tinos Weltbild und sein Handeln richtete sich natürlich nach diesen Grundsätzen, zudem konnte er Abweichungen auch immer bestens begründen.
Sergius Golowin, der von 1967 an intensiven Kontakt mit ihm hatte, weiss das so zu illustrieren:
"Verschiedene Male habe ich mit ihm wegen bestimmter Dinge hart diskutieren wollen, weil ich gefunden habe, das sei falsch, und ich mich verpflichtet fühlte, ihm das auch sagen. Er hat seine Handlungen dann aber immer so schön begründet, dass ich ihm jedesmal sagen musste, also, wenn man das so sieht wie du, dann könnte es ja richtig sein."
Tino hatte als Boss die Tendenz, Sachen, die schief herauskamen auf sich zu nehmen oder die Betroffenen durch seine Verhandlungskunst herauszuholen. Anlässlich eines Besuches bei Golowin in Interlaken liessen Leute, die mit Tino kamen, aber nicht zu seiner Bande gehörten, sich etwas zu Schulden kommen, worauf die Polizei eingriff. Tino ist auf den Posten gegangen, hat die Leute herausgeredet und alles gedeckt. Aber dann war Schluss. Er ging mit ihnen unheimlich hart ins Gericht und wollte nichts mehr von ihnen wissen. Das Ritual der Kameradschaft hatte aber auch andere Seiten. Jeder, der in die Bande aufgenommen werden wollte, musste als Prüfung ein Delikt begehen. Der tiefere Sinn lag darin, die Gruppe zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen zu schweissen, in der keiner mehr die anderen verraten konnte, weil jeder Schuld auf sich geladen hatte.
Tinos Beziehung zu Motorrädern grenzte an Religion. Er hatte mindestens 35 Unfälle, zum Teil sehr schwere. Dass er ohne Helm fuhr, war eine Selbstverständlichkeit. Sergius Golowin, der ein Buch mit Tinos "philosophischen Gedanken" für den Arche Verlag geschrieben hat, das dann aber nicht erschienen ist, gibt mir eine Kostprobe, zum Thema Töff aus dem Gedächtnis:


"Auf einem Motorrad fahren, das kann jeder. Aber richtig fahren kannst du erst, wenn du einen Unfall gehabt hast. Entweder fährst' du nachher gar nicht mehr oder du fährst ganz brav. Und es gibt solche, die sagen, 'jetzt erst recht!'. Der Töff hat mir bewiesen, dass ich nicht durch den Töff sterbe. Jetzt lese ich meine Knochen zusammen und fange an, richtig zu fahren. Nun merkst du plötzlich, wie die Kraft der Maschine sich mit der eigenen Kraft zu vermischen beginnt. Und du merkst, dass du und der Töff zu einem Wesen verschmelzen. Das war so bei den Rittern und ihren Pferden, bei den Indianern, bei den Kosaken, bei all' den wilden Völkern. Der Töff regt deine Gedanken an und du überlegst dir was und merkst auch, wie deine Gedanken beinahe auf den Töff übergehen."

Tino


Der Journalist Walter Bretscher hat Tino in einem Interview über das Verhältnis, das Rocker zu den Frauen haben, befragt. Das Problem war für die Linken und Hippies in dieser Zeit in dem Sinne tabu, dass man nach Aussen Gleichberechtigung vertrat und sich nach Innen wunderte, wieso damit immer wieder Probleme entstanden.
Die Frage Bretschers lautete dann auch:
Bretscher: „Mädchen können bei den "Lone Stars" nicht Mitglied werden. Behandelt ihr sie so nicht als zweitrangige Wesen?"
Tino: "Das stimmt. Leider haben die Mädchen mit ganz wenigen Ausnahmen nicht die gleiche Fähigkeit zur Kameradschaft wie ein Junge. Das liegt aber nicht am Wesen der Frau, sondern an der Erziehung."
Bretscher: "Da ihr auch alles teilt, teilt ihr auch die Mädchen?"
Tino: "Für uns gibt es zwei Kategorien Mädchen. Mädchen, die ein festes Verhältnis mit einem Gangmitglied haben - solche sind tabu für die anderen - und solche, die mit allen schlafen. Letztere nennen wir "Mamas" oder "Liegestühle""
Bretscher: "Ist das nicht eine neue Form des heuchlerischen Spiesser Prinzips: Leichte Mädchen verachtet man, schlafen tut man aber trotzdem mit ihnen?
Tino: "Im Gegenteil ein Mädchen, das für alle da ist hat vielmehr Klasse. Es ist viel offener, weniger spiessig, weniger versnobt. Wir haben vor ihnen viel mehr Achtung. Es gibt keinen Grund, nur mit einem in der Gang zu schlafen. Wir sind alle gleich gut."


Selbiger Tino, Prediger der freien Sexualität, entpuppt sich in seinem Knast-Tagebuch von 1973 aber als schrankenloser Romantiker, als die Freundin, die er damals am liebsten hatte, nichts von sich hören liess. Und sein Machismo, den er nach aussen gerne pflegte und zur Schau stellte, gewinnt eine andere Dimension, wenn er folgenden, eigentlich sehr rührenden Gedanken äussert:
"Ich bin überzeugt, dass die Vorstellung beim Ficken die ist: Er liegt auf dem Rücken, da der Mann von Natur aus 6% mehr Muskeln hat, und vom Betasten und Anschauen angeheizt wird. Sie hingegen, reagiert auf gestreichelt werden, also muss sie oben rauf und er muss die Hände frei haben. Ich will nur sagen: zurück zum Instinkt, zurück zur Natur. Natürlich bin ich verrückt, aber was ihr dort drüben technisiert, mechanisiert und als normal, rechtschaffen, ordentlich bezeichnet, ist für mich eher etwas Zerstörtes, auch wenn du Fortschritt dazu sagst."
Dies von einem Rocker zu hören, ist doch eigentlich sehr erstaunlich und alles noch bevor die Feministinnen dieses Thema diskutierten.
Die angeführten Beispiele zu seiner Idee des Rockertums, sind beinahe zufällig aus dem herausgenommen, was ihm alles zugeschrieben wird, lassen das Rauhbein Tino als eine Gestalt von grosser Originalität mit fast poetischen Dimensionen erscheinen. Keinesfalls war er einfach ein Kopierer des amerikanischen Rockertums.
Das Rockertum ist eigentlich ein Unterschichtsphänomen. Untersuchungen über die "Angels" in den USA und die Rocker in England zeigen dies klar auf.
Sehr intensiv schildert Tino die Situation seiner Bandenmitglieder in Jürg Hasslers Film "Krawall", einem einzigartigen Dokumentations- und Actionfilmüber die Globusunruhen und ihre Hintergründe:
"Unsere Bande setzt sich aus Leuten zusammen, die sich von unserer Gesellschaft, der älteren Generation, von unserer Ordnung eben verseckelt fühlen, weil sie kein rechtes Zuhause haben. Da ist einer; der ist Vollwaise, bei einem anderen ist die Mutter eine Hur', der Vater säuft, die Mutter säuft, sie wohnen in Notwohnungen und was machst du da; du gehst auf die Gasse, weil es Zuhause eben stinkt, weil eine Sauerei ist in der "Loge", und weil man es eben dort nicht aushalten kann. Leute, die immer im "Spunten" sind, suchen sich dann eben ein neues Zuhause, schliessen sich zu einer Bande zusammen. Das ist der Hintergrund, den eine Bande hat. Doch der Hauptzweck der Bande ist nicht ein Ersatz für ein Zuhause, für die armen Büblein, sondern die Bande ist das Ziel vor Augen. Die Bande ist das, dass wir uns auflehnen gegen die Gesellschaft, gegen diese Ordnung, gegen den Füdlibürger, gegen die Vorurteile."
Im Gegensatz zu seinen Bandenmitgliedern stammte Tino aus gutbürgerlichen Verhältnissen, hatte aber Mühe dem Druck seines Vaters nach Anpassung standzuhalten. Asthma und Legasthenie, die aber nicht richtig erkannt worden ist, waren die Folge:
"Ich komme aus einer gutbürgerlichen Familie. In meiner Schulzeit litt ich unter Legasthenie (Leseschwäche). Mein Vater konnte das nicht verstehen. Obwohl ich mir Mühe gab. Schliesslich schickte man mich zum Psychiater. Der sagte, ich sei intelligent genug, um lesen zu können. Darauf hiess es "also, doch Faulheit!". Ich wollte so früh wie möglich vom Elternhaus unabhängig sein. Es gab für mich nur zwei Möglichkeiten: Koch oder Matrose, weil man bei diesen Berufen frei Kost und Logis erhält. Ich wurde Rheinmatrose - wegen der frischen Luft. Nach der Lehre. hatte ich das Matrosenleben satt und schloss mich den "Lone Stars" an", erzählt er Walter Bretscher.
Trotzdem brach er sein Verhältnis zum Elternhaus, vor allem zu seiner Mutter (der Vater starb früh), nie ab. Er sprach immer sehr gut von seiner Familie. Das "elterliche Haus" stand ihm jederzeit offen.
Pfarrer Sieber hat Tino bereits 1973 als eine Art "Gassenarbeiter" gesehen. Er hat ihm während seiner Knastzeit ein diesbezügliches Angebot gemacht. Tino war darüber einerseits gerührt, machte sich aber andererseits lustig über die Illusion des guten Sieber, dass die Füdlibürger, seine grössten Feinde, ihn jemals in der Position eines Sozialarbeiters akzeptieren würden.
Sein Verhältnis zu den Linken hatte neben den tagespolitischen Allianzen auch mit einer grossen Bewunderung von Che Guevara zu tun die er, wie mir gesagt wurde, sein ganzes Leben lang aufrecht hielt. Zum anderen war er laut Sergius Golowin begeistert von alten wilden russischen Volksstämmen, was er dann - in einer wirklich schrecklichen Vereinfachung über die Gleichsetzung von Russen und Kommunisten auf die Linken übertrug.

Das Bündnis:

Die Möglichkeit eines Bündnisses mit den Rockern war für die Protestjugend in verschiedener Hinsicht attraktiv. für jene Teile der Bewegung, die von der Musik, der Bewusstseinserweiterung, von der Begeisterung für alte Bräuche und Sitten, von der Abwendung von erstarrten Gesellschaftsnormen und der Ablehnung der Konsum- und Leistungsgesellschaft her kamen, bot das Voodoo und Kulturmischmasch eines Tino und seinesgleichen natürlich viel Spass, dazu geistige und praktische Anregungen. Sergius Golowin, ein Vertreter dieser Richtung, schilderte mir seine erste Begegnung mit Tino so:
"Urban Gwerder, der Herausgeber der Untergrundzeitschrift "Hotcha!", hat mir bei ihm zu Hause im Zürcher Niederdorf einen Rocker vorgestellt. Rocker waren mir zwar nicht unbekannt, die Bekanntschaften beschränkten sich aber auf sogenannte Sonntagsrocker. Und dieser Rocker, das war Tino und das passierte 1967. Wir haben uns spontan gut verstanden und er besuchte mich dann oft in Interlaken oder ich war bei ihm in Zürich. Er konnte mir von Seiten des Lebens erzählen, namentlich vom Zürcher Oberland und vom Niederdorf, die für mich damals völlig neu waren und das faszinierte mich. Ich hatte von Anfang an viel. Bewunderung für ihn übrig, obwohl ich Schriftsteller bin und er fast nicht schreiben und lesen könnte. Nicht aus mangelnder Intelligenz, sondern aus einer Abneigung gegen unsere Zivilisation sträubte er sich dagegen und er kam mir darin beinahe wie ein Vertreter des fahrenden Volkes vor. Vermutlich hat er im Leben sehr wenig Bücher gelesen und sehr wenig aufgeschrieben, aber er hatte dafür eine unheimliche Fähigkeit im Erzählen: Um seine bildhafte Sprache habe ich ihn fast ein wenig beneidet, ich selber erzähle ja auch gern. Aber bei ihm war ich meistens in der Rolle des Zuhörers. Das dauerte dann etwa bis 1969. Dann kam in ihm das Gefühl auf, seine Idee, hier eine ideale Freundesgruppe zu gründen, würde irgendwie an den hiesigen Verhältnissen scheitern, und vielleicht sei es besser, wenn er nach Amerika auswandern würde."
Für die Neue Linke, die aus der Studentenbewegung und jungen Kritikern in den traditionellen Arbeiterparteien stammte, waren die Motivationen etwas anders:
Die genuine Ablehnung der Gesellschaft und ihrer Werte durch die Rocker war für sie, die ihren Protest erst über einen mühsamen intellektuellen Prozess formulieren konnten, Manna das vom Himmel fiel. Endlich jemand, dem man nicht mehr über Schulungskurse und ausgeklügelte Rhetorik davon überzeugen musste, dass etwas faul war im Staate Dänemark. Und dann hatte man jemanden gefunden, der bereit war zu kämpfen und dabei auch weniger ängstlich war als man selber.
Roland Gretler, einer der Vertreter dieser Neuen Linken schilderte mir das Verhältnis zu Tino und den "Lone Stars" folgendermassen:
"Von der realen Existenz der Rockers hat man damals wenig gewusst. Auf der einen Seite hat man sie als Genossen, als Zugehörige angesehen, als Speerspitze beinahe verherrlicht und in der anderen Phase, der Retourkutsche, hat man sie wieder als Bande von asozialen Fällen betrachtet. Die Kontakte liefen ja auch weniger über die Neuen Linken als über die Hippies, mit denen wir aber oft gemeinsame Sache machten. Bei den Linken sind die Rockers vor allem von den Journalisten in Beschlag genommen worden. Auch in der 'Schweizer-Illustrierten' und in anderen Zeitungen, die damals als kritisch galten, gab es eine ganze Reihe von Artikeln über die Rockers, in denen diese sehr stark heroisiert worden sind. Die wurden regelrecht aufgebaut, er war eine richtige Mode unter diesen Journalisten. Im kritischen oder sozialanalytischen Sinn haben sie natürlich nichts beigetragen, sondern sie haben lediglich die Vorurteile gegenüber Leuten, die anders gekleidet sind, aufgebaut. Persönlich hatte ich eine viel skeptischere Einstellung den Rockern gegenüber. Das heisst aber nicht, dass ich zu ihnen schlechtere Beziehungen hatte, als die anderen, im Gegenteil; mit Tino bin ich recht gut ausgekommen: Ich suchte mit ihm ein offenes und ehrliches Verhältnis, das die Differenzen ebenso zu Tage treten liess wie die Gemeinsamkeiten. Einmal, als sie keine Loge fanden, wohnten sie bei mir, im Bauernhaus, das ich gemietet hatte. Als sie aber das ganze Dorf, mit Kirchengeläute und Motorenlärm, relativ rücksichtslos - nachher kann man zum Teil sogar lachen - durcheinander zu bringen drohten, mussten sie bei mir wieder ausziehen. Tino hat das aber sofort akzeptiert. Im Gegensatz vielleicht zu den Mitgliedern seiner Bande konnte er sich auch in die Haut anderer Leute versetzen. für die Bewegung habe ich das Verhältnis zu den Rockern immer als Gratwanderung angesehen: Ich habe nur dort auf Bündnisse tendiert, wo Linke und Rocker wirklich die gleichen Interessen hatten. Wenn es einfach darum ging; dass eine Aktion, vor der man selber Angst hatte, von den Rockern gemacht werden sollte, so fanden wir es letztlich doch besser, diese Aktion nochmals zu überlegen. Zudem war ich mir über die Zuverlässigkeit der Rocker nicht immer ganz im Klaren. Bei den Lämpen, die sie überall machten, sind sie natürlich dem Gegner, der Polizei, oft in die Finger geraten und dort hat man sie sicher auch über die Linken befragt. Und dort waren sie natürlich sehr unzuverlässig, das war mit ein Grund. Dazu hatten die Strukturen, die sie untereinander hatten, wirklich nichts zu tun mit den antiautoritären Vorstellungen der Neuen Linken."
Wie das Bündnis mit der Bewegung für die Rocker ausgesehen haben mag, schilderte Tino selbst in der bereits erwähnten Stelle im Film "Krawall" :


"Das erste Mal, dass wir Kontakt gefunden haben mit anderen Gruppen, die auch rebellieren, die sich auch auflehnen gegen das Füdlibürgertum, das ist eigentlich beim Globus-Krawall gewesen. Typisch, da haben sie mich verhaftet und in Untersuchungshaft gesperrt und zwar ekelhaft lange, am längsten von allen zusammen. Man hat von mir Namen wissen wollen unter Verwendung von ganz faulen Touren: "Ihr seid missbraucht worden von den Linksgruppen, gebt doch die Drahtzieher an und sagt wer's gewesen ist." Ich habe gedacht, die Sache ist gut, diese Leute halten weiter zu uns, die rebellieren genauso wie wir. Wir haben einfach keine anderen Möglichkeiten, weil wir vom Schicksal nicht die Möglichkeit gehabt haben zum Studieren, um das intellektuell durchzuführen. Darum führen wir das auf die andere Art, auf die radikale Art durch. Und wenn man sich dann zusammenschliessen kann, dass die Studenten uns unterstützen und die Auflehnung auf die intellektuelle Art machen und wir auf die radikale Art, dann erst ist ein Erfolg da. Es muss einfach noch ein besseres Zusammenarbeiten sein. Wenn alle zusammenhalten und jeder für jeden da ist und jeder weiss, ich kann auf meinen Nächsten zählen, dann sind wir nämlich stärker, als der ganze Apparat von Staat und Stimmbürger und Füdlibürger. Dann haben wir nämlich die Macht in der Hand. Denn ein Zusammenleben gibt es in dieser Gesellschaft, in der wir jetzt leben und gegen die wir uns auflehnen, ein Zusammenhalten gibt es dort nicht, es geht nur um den Vorteil, um die Mutschgen, um die Kohle und sonst geht es um nichts dort."

Tino selbst in der bereits erwähnten Stelle im Film "Krawall"


Beide, Gretler und Golowin bestätigen, dass ohne die Person Tinos und seine Vermittlung, eine Allianz mit der Rockern wohl kaum zustande gekommen wäre. Und zwar einfach, weil er sehr wohl in der Lage war; verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen und auch solche mit einzubeziehen, die ihm und seinen Leuten fremd waren.

Die Flucht:

Im Laufe des Jahres 1973 kratzt Tino, der es in der Strafanstalt Regensdorf nicht mehr länger aushält, die Kurve. Um sich einen Nagel, der sein Bein nach einem Töff Unfall zusammengehalten hat, entfernen zu lassen, muss er ins Spital, wo er bei einer günstigen Gelegenheit die Flucht ergreift. Es heisst, ein Motorrad hätte draussen auf ihn gewartet. Zum zweiten Mal setzt er sich in den Libanon ab.
Jahre später wird er einem Freund erzählen:
"Lieber in Freiheit verrecken, als im Knast kaputt gemacht werden. Das soll auch ein Beispiel für andere sein. Je länger du draussen bist, desto mehr gibt dir das Kraft und du beginnst an deine eigene Stärke zu glauben. Siehst Du“, erklärte mir dieser Freund, "Tino hat das so gesehen und er hat auch so gelebt. Und er hat auch dafür bezahlt. Mit seinem Leben. So eine Konsequenz und Geradlinigkeit habe ich noch bei kaum einem Menschen, den ich kenne, gesehen."
Über die Jahre, in denen sich Tino im Nahen Osten, speziell im Libanon, aufhielt, ist mit Ausnahme von Geschichten, die Tino später erzählt hat, wenig bekannt.
Er lebte eine Zeitlang in einer abgeschiedenen Gegend, wo er in einer Stein-Hütte wohnte und streifte jeweils tagelang mit einem Hund und einem Raubvogel, den er sich gezähmt hatte umher.
Es sei die Zeit einer inneren Wandlung gewesen, Tino hätte sich zu einem aussergewöhnlich toleranten Menschen entwickelt, was früher zumindest gegenüber Leuten, die ausserhalb seines Bezugsrahmens gestanden hätten, wohl weniger der Fall gewesen sei, ging die Erzählung weiter. "Ich glaube, dass Tino in dieser Zeit lernen musste, Gesetze und Sitten zu akzeptieren, die nicht von ihm selber aufgestellt worden sind. In seinen letzten Zürcher Jahren hatte er eine unheimliche Macht, konnte tun und lassen was er wollte, er liess sich von niemandem etwas verbieten. Wenn es irgendwo Stunk gab waren er und seine Leute einfach die Stärkeren. Hier im Libanon hatte er es aber teilweise mit Stammesgemeinschaften zu tun, die ihre eigenen Gesetze hatten, an die auch er sich halten musste. Ein anderes Problem war der Alkohol. In seinen Alkoholexzessen konnte er unausstehlich werden und Dinge vollbringen, die er bei klarem Verstand niemals getan hätte."
Diese Wandlung will ich Euch mit einer Geschichte illustrieren:
Das Gebiet, in dem Tino in seiner Stein-Hütte damals lebte, gehörte einer Stammesgemeinschaft, die sich aus Gründen, die hier nicht erwähnt werden sollen, Fremden gegenüber sehr verschlossen gab. Nur schon, dass Tino auf dem Land dieser Bauern leben durfte will einiges heissen.
Gelegentlich stattete er dem Dorf einen Besuch ab. Die Leute waren strenggläubige Muselmanen und hielten sich an das Alkoholverbot ihres Propheten. Tino wiederum, musste sich eines Abends unbedingt volllaufen lassen. Im Rausch geriet er an den Neffen des Dorfältesten und verprügelte ihn. Kein Staat und keine Polizei konnten die Gemeinschaft daran hindern, ihre eigenen Gesetze und Rituale zu praktizieren. Und gemäss diesen wäre Tino ein toter Mann gewesen. Da der Dorfälteste ihn aber in sein Herz geschlossen hatte, setzte er sich für ihn ein und Tino konnte unversehrt im Dorf bleiben. Allerdings stellte er ihm eine klare Bedingung: Sollte Tino während seines weiteren Verbleibens je wieder einen Tropfen Alkohol anrühren, müsse er gehen. So hielt sich Tino während dieser Zeit an das Verbot.
Die Leute, die er im arabischen Raum kennengelernt hatte, beschrieb er später als Menschen der starken Worte, die nicht viel redeten, aber in wenigen Worten sehr viel sagen konnten. Dass Tino mit solchen Leuten zusammenleben konnte, hängt damit zusammen, dass er diese Qualität - die nicht im Widerspruch zu seinem Talent, nächtelang zu erzählen stand - ebenfalls besass.
1976 hielt er sich kurze Zeit in der Schweiz auf, ein Ort davon war Zürich. Er ging Freunde besuchen, liess sich an diesem und an jenem Ort sehen, doch das Gastspiel war kurz, einige Wochen nur, denn so etwas spricht sich schnell herum, schneller als es das Gebot der Vorsicht erlaubt.
Ein Jahr, die Datierung ist ungewiss, lebte Tino auf den Philippinen.
Die späteren Jahre verbrachte er in Bolivien. Wer nicht schon beim Libanon "Aha! " gesagt hat, dem beginnt es spätestens jetzt zu dämmern. Vor lauter Eigenbau-Gras ist Euch vielleicht der "Rote Libanon" entfallen, aber jedes Kind, das einmal im "Spiegel" oder im "Stern" oder sonst wo geblättert hat, weiss: Aus Bolivien kommt das Kokain. Und irgendwie wäre das verständlich. Von etwas musste er ja leben.
Bolivien gehört zu den drei grossen Kokainproduzenten der Welt und dieser Umstand bringt es mit sich, dass Handel und Ausfuhr in festen Händen sind. Im Lande wird behauptet, die Familie des ehemaligen Diktators Hugo Banzer sei stark ins Geschäft verwickelt, viele der hervorragendsten Anbaugebiete in den Nord- und Südyungas, den von den Anden-Kordilleren abfallenden Seitentälern, würden sich im Besitze der Banzers befinden. Zudem kontrollieren sie die wichtigsten Banken im Lande. Die Frau von Hugo Banzer wird unter den Einheimischen "reina de la nieve", Schneekönigin, genannt.
Etwa die Hälfte jener 25 Tonnen Kokain, für die sechs Millionen süchtige Amerikaner jährlich 23 Milliarden Dollar ausgeben, stammt aus Bolivien.
Dort ist der niedrige Kokastrauch seit Urzeiten für die indianische Bergbevölkerung eine sakrale Pflanze, deren Blätter gegen Höhenkrankheit, Hunger und Kältegefühl gekaut werden.
"Die Herstellung des Rauschgiftes Kokain ist das Geschäft der Weissen. Von den Milliardenumsätzen der nordamerikanischen Mafia gelangen inzwischen schon jährlich 1.6 Milliarden Dollar bis zu Produzenten und Händlern in Bolivien - das Doppelte dessen, was das Land mit legalem Export von Zinn, Erdgas und Kaffee verdient", schrieb der deutsche Journalist Manfred von Conta 1981.
Die USA bekämpfen Boliviens Kokain-Export aus naheliegenden Gründen und fordern ultimativ seine Unterbindung. Aber wie soll das vor sich gehen in einem Land, das seit seiner Gründung 1825 bereits 189 Staatsstreiche erlebt hat. Bietet sich zwischen den Militärdiktaturen wieder einmal die Chance einer liberalen oder sozialistischen Regierung, so wird versucht, das Problem mit Landwirtschaftsprogrammen grundsätzlich zu lösen. Nur wenn die Bauern eine reale Alternative erhalten, kann die Kokain-Produktion in den Rahmen des traditionellen Kulturgutes zurückgedrängt werden. Ein Berater des jetzigen gewählten und letztes Jahr aus dem Exil zurückgekehrten - Präsidenten Hernan Silez Suazo erklärte kürzlich einem französischen Journalisten gegenüber, dass theoretisch die Möglichkeit bestehen würde, mit dem Problem in 15 bis 20 Jahren fertig zu werden, konkret sah er jedoch keine Lösungen.
Wie alle Länder, die vom Drogenexport profitieren, besitzt Bolivien rigorose Drogengesetze. Wer mehr als zwei Gramm irgendeiner illegalen Droge in seinem Besitze hat, riskiert eine hohe Gefängnisstrafe. Als Alibiübung gegenüber dem Ausland gedacht, treten die Gesetze vor allem gegenüber Ausländern und Indios in Kraft, dazu genügt schon ein kurzer Blick in die bolivianischen Gefängnisse. Wer sich die Droge auf der Gasse oder im Hinterzimmer einer Spelunke kaufen will, riskiert einem Drogenagenten in die Hände zu geraten.
Dass der Tausendsassa Tino sich in Vielem versuchte, könnt Ihr Euch denken. Aber könnt Ihr Euch den ehemaligen Tino, DEN BOSS, als kleinen Koksschieber im Sold der von bolivianischen Militärs, Rechtsextremen und alten Nazis beherrschten Drogenmafia vorstellen? Das Risiko, einen unabhängigen Schmuggel aufzuziehen, was Tino vielleicht eher entsprechen würde, ist immens hoch. Fast etwas zu hoch für einen, der jahrelang auf der Flucht lebte und vielleicht hofft, seine Strafe sei einmal verjährt und er könne sich auch in der Schweiz und Europa wieder sehen lassen und frei bewegen.
Tinos Leben im Exil müsst Ihr Euch eher so vorstellen, dass er sich mit kleinen, meistens einigermassen legalen Geschäften durchgeschlagen hatte. Zudem hatte er gute Freunde, die ihm aus dem Ausland ab und zu Geld zukommen liessen.
Seine Grösse, seine kräftige Gestalt, seine Spontanität, seine Gabe sich über Gestik und Mimik, auch in Sprachen zu verständigen, von denen er nur einige Brocken beherrschte und nicht zuletzt seine Tätowierungen, halfen ihm zu schnellen und soliden Kontakten mit Einheimischen, Abenteurern und Reisenden. Zu den Tätowierungen hatte er, wie mir Sergius Golowin erzählte, schon in den alten Zeiten seine eigene Theorie: "Er hat gesagt, wenn man tätowiert sei, so würde man bei den Leuten von anderen Rassen und Zivilisationen immer mit den interessantesten zusammenkommen, denen die am wenigsten von unserer Kultur verdorben seien und noch eine ursprüngliche Beziehung zu ihren alten Bräuchen hätten. Mit interessanten Leuten von den verschiedensten Nationen sei er so jedenfalls in die besten Gespräche geraten."
Er war auch sehr sicher in seinem Urteil über andere Leute und wusste schnell, auf wen er sich verlassen konnte. War das nicht der Fall, konnte aber auch er es dann auf die linke Tour mit einem treiben.
Unter diesen Voraussetzungen war es ihm einfach, mit Antiquitäten und Kunstgegenständen, für die er ein gutes Auge entwickelt hatte, zu handeln, so dass er seine laufenden Ausgaben damit bestreiten konnte. Durch seine guten Kontakte zu den Bauern konnte er, wenn es nötig war, auch billiger durchkommen als auf dem Markt.
Eine Zeitlang soll er auch von Gold gelebt haben. Selbst in den Touristenführern wird beispielsweise der Rio Tipuani, im Urwald östlich der Anden, für Goldwäscher-Expeditionen empfohlen. Einige Orte dort haben sich in einem neueren Gold Boom zu Goldgräberzentren mit Vergnügungslokalen und Puffs, alles natürlich in Baracken, entwickelt, wo der erfolgreiche Goldgräber sein leicht verdientes Geld auch schnell wieder loswerden kann.
Kleinere Gesellschaften, die Stollen unter die Flüsse bauen, den abgelagerten Sand zu Tage fördern und ihn auswaschen, sind entstanden; aber bereits haben auch amerikanische Gesellschaften, die mit riesigen Baggern arbeiten, Schürfrechte erworben. Der Verkauf des Goldes ist so geregelt, dass zumindest die kleinen Goldgräber praktisch an die ansässige staatliche Minenbank verkaufen müssen, die jedoch nur etwa einen Drittel des internationalen Goldpreises zahlt. Es heisst, Tino habe sich selbst auch im Schürfen versucht, sogar eine kleine Mine gekauft; die aber nicht rentierte. Meist habe er aber von den Leuten Gold gekauft, zu einem Preis, der etwa über dem Preis der Banken gelegen habe und in La Paz an Touristen etwas unter dem offiziellen Goldpreis wieder verkauft.
Tino lebte in dieser Zeit mal hier und mal dort und unternahm die verschiedensten Reisen. Hauptsächlich aber hielt er sich in La Paz und ins Gebiet jenseits des nahen Cumbre Passes, in den Yungas und im tiefergelegenen Dschungel auf. Tino kannte sich in La Paz, das mit seinen 650'000 Einwohnern, davon die Hälfte Indios, die Hauptstadt des Landes ist, bestens aus. Am Anfang seines Aufenthaltes hatte er es durchstreift, sich "seine" Lokale, wo man ihn dann auch kannte, ausgesucht. Mehr instinktiv, nicht im eigentlichen Sinne berechnend, baute er sich Verbindungen auf, die ihm später in irgendeiner Hinsicht nützlich sein konnten. In der ansässigen Ausländerszene und unter den jungen Indios war er mit der Zeit gut bekannt. Auch hier gehörten wilde Motorradfahrten, allerdings nicht mehr so häufig wie früher, zu seinem Image.
Oft lebte er mit Schweizern oder Europäern zusammen, die er entweder von früher her kannte oder die über gemeinsame Bekannte zu ihm stiessen. Man mietete sich irgendwo in dieser Gegend ein Haus oder eine Hütte, liess es sich wohl sein oder unternahm eine Reise.
Tatsächlich hätte es sich bei dieser Figur aber auch um einen ahnungslosen Wichtigtuer handeln können: Tino konnte sich, wenn er wollte, die weissen Kristalle sehr wohl beschaffen und es versteht sich, dass unter Freunden geschnupft worden ist. Aber nach dem Eindruck, den sie von diesem Trottel gewonnen hatten, wäre es völlig, unverantwortlich gewesen, ihm eine Linie anzubieten. Wenn nicht das BKA oder die Drogenpolizei in den nächste Tagen erschienen wäre, so hätten sie doch mit Sicherheit eine Völkerwanderung von neugierigen Touristen vor dem Haus erwarten müssen, weil dieser Mensch sein Erlebnis sicher jedem erzählt hätte, der ihm über den Weg gelaufen kam.
Besonders ein Ausflugsziel in den Yungas nahe von La Paz hatte es ihm zeitweise angetan. In seiner Hütte fanden auch vorüberziehende Rucksacktouristen Aufnahme. Nächtelang erzählte er seine Geschichten. Allerdings verliefen solche Zusammenkünfte nicht immer unproblematisch. Der ehemalige Zürcher Velaustenfürst hatte immer ein gutes Verhältnis zu den Leuten, die ärmer waren als er, weniger aus sozialethischen Gründen, sondern, weil diese ihn einfach mehr interessierten, als die gehassten "Füdlibürger". Im Libanon hatte er gelernt, sich diesen Leuten auch anzupassen und er hasste nichts mehr, als die Rucksacktouristen, die mit ihrem "South American Handbook oder der "Velbinger-Bibel" das Land durchquerten und meinten, sie müssten es bei den Einheimischen immer auf die billigste Abreiss-Tour versuchen. Beispielsweise regte er sich immer darüber auf, wenn diese auf dem Markt die Preise derart heruntertrieben, dass die Leute am Schluss die gelackmeierten waren.
Einmal trafen er und seine Freunde in einem Lokal auf einen Touristen, tranken mit ihm Kaffee und plauderten. Nun nahm dieser die Zuckerdose und begann, Zucker in einen Plastikbeutel, den er bei sich hatte, abzufüllen. Ihr mögt verstehen, dass das für Tino entschieden zu weit ging. Der Kaffee kostete umgerechnet etwa zehn Rappen. Er packte also diesen Kerl, nannte ihn ein Schwein und gab ihm zu verstehen, dass er hier überflüssig sei, so dass dieser das Lokal augenblicklich verlassen musste.
Daneben aber hatte er, wenn er nüchtern war, so etwas wie einen sechsten Sinn für Situationen, die böse ausgehen konnten. Eines Abends in La Paz sassen sie in einer fürchterlichen Spelunke. Über 100'000 Jahre Zuchthaus müssen da zusammengesessen haben. Ziemlich alles dabei: Mord, Totschlag, Messerstecherei, Gewalttätigkeit, die Liste könnte noch fortgesetzt werden. Im Laufe des Abends ist unseren Freunden dann Kokain zu Kaufe angeboten worden. Tino gab dem Vermittler zwar grünes Licht, raunte aber seinen Begleitern zu, es sei an der Zeit, frische Luft zu schnappen. In der Nähe des Lokals hielten sie an. Und es dauerte nur wenige Minuten bis fünf Polizisten, eintrafen, denen sie gerade noch entkommen waren.
Ein anderes Mal besuchte sie ein Tourist, ein Deutscher, der davon. überzeugt war, von Tino Kokain kaufen zu können. Einen ganzen Abend lang versuchte er ihn auszuhorchen und merkte dabei nicht, dass Tino genau das mit ihm tat. Er liess Leute, gegen die er nicht von Anfang an ein volles Vertrauen hatte, nicht einfach abblitzen, sondern er gab jedem eine Chance. Dieser Deutsche nun benahm sich fürchterlich dumm. Er zeigte eine sehr genaue Federwaage, die in Deutschland mindestens 400 Mark gekostet hatte, zückte sein Flieger-Brevet und erzählte von seiner Tauchausbildung. Tino sagte ihm kein Wort über Kokain und liess ihn am nächsten Tag mit Andeutungen, er solle es einmal in "Cochatiaiba oder Santa Cruz; dem Sitz der rechtsextremen Koks-Mafia versuchen, weiterziehen.
Der Kerl kam dann später wieder zurück - erfolglos, und versuchte es bei Tino, von neuem. Irgendwie. hatte Tino ihn im Verdacht, er sei ein Spitzel des deutschen BKA oder der deutschen Drogenpolizei. Denn zu dieser Zeit liefen Gerüchte, es würden sich RAF-Leute in Bolivien aufhalten, teils um sich zu verstecken, teils um sich ihre Aktionen über Kokain zu finanzieren: Die Rede war auch einmal von einem Kokain-Transport nach Deutschland, der von alten Nazis, aus der Gegend von Santa Cruz organisiert worden war und in Deutschland dann gleichzeitig an Neonazi und RAF(!)-Kreise weiterverteilt worden sei. Gründe fürs BKA, in Bolivien herumzuschnüffeln, waren also vorhanden. Tino und seinen Freunden kam er einfach seltsam vor, dieser Stümper, der mit einer teuren Federwaage im Urwald herumzog und an keiner Grenze damit aufgefallen war. Zudem behauptete er, über Absatzkanäle nach Deutschland und nach der Schweiz zu verfügen, hatte aber von den Preisstrukturen keine Ahnung.

Ende:

Auf der Ostseite der Kordilleren, von La Paz aus über eine holprige und gefährliche Strasse erreichbar, die sich den 4600 Meter über Meer gelegenen Cumbre-Pass emporwindet, dann sehr steil in die Yungas abfällt, und schliesslich in den Selvas, im bolivianischen Dschungel, der sich gegen den Rio Beni ausbreitet endet, liegt ein Gebiet, welches in den letzten Jahren unter Abenteurern und Auswanderern an Popularität gewonnen hat. Dort, wo die Strasse endet, kann der Weg nur über Fußpfade oder einen der vielen Flüsse fortgesetzt werden. Über weite Strecken unerforscht und kartographisch nur rudimentär erfasst, bietet die Gegend Menschen, die den Auswüchsen unserer Zivilisation abgesagt haben, die Möglichkeit, ein Leben zu führen, das ihren Vorstellungen vom Ursprünglichen vielleicht sehr nahe kommt.
Dass es Tino, der in seinen Rockerjahren Lagerfeuer und Mondscheinnächte geliebt hatte und sich in den späteren Jahren sehr intensiv mit den Bräuchen der Menschen, die er in der Natur antraf, auseinandersetzte, in dieser Gegend gefallen hat, muss ich Euch vermutlich nicht weiter erklären. Bestimmte Dinge nahm er auch auf und praktizierte sie für sich. Beispielsweise den Pacha Mamma Kult der Indianer. Wenn dir beim Essen etwas auf den Boden fällt, dann lass es liegen, gib es der Erde, von der es kommt zurück. Wenn dir nichts auf den Boden fällt, so lass etwas fallen, gib es der Mutter Erde, der Pacha Mamma. Er suchte die Plätze aus, an denen er sich setzte; mit Vorliebe lehnte er sich dabei an Bäume. Er suchte Kraftplätze, lange vor seiner ersten Lektüre des von ihm dann sehr geschätzten Castaneda. Eine Frau hatte ihm einen breiten Gurt gefertigt. Er ließ sie einen Ausspruch des Don Genaro aus "die Reise nach Xtlan" auf "diesen Gurt sticken. Daneben las er die Schriften Rudolf Steiners und kannte sich im Koran ein wenig aus. .
Sein Traum war ein in dieser Gegend gelegenes Tal, von beachtlicher Größe, auf welches er bei den Indianern und Siedlern, die in dieser Gegend lebten, bereits eine Option hatte. Aber so ganz hatte er sich von unserer Zivilisation noch nicht lossagen können. Vorläufig lebte er in einem Marktflecken; einem Boom-Dorf, das in den letzten Jahren, wegen der Goldgräberei, auf über 100 Seelen angewachsen war. Das Klima
in diesem Tiefland behagte dem Asthmatiker besser als jenes auf dem Hochplateau mit seiner dünnen Luft:
Tino hatte sich ein Haus gemietet, sagen wir, von einem gewissen Don X. Da dieser Don X eine der wichtigen Persönlichkeiten im Dorf war, bedeutete das für Tino einen gewissen Schutz und er konnte sich in diesem Dorf sehr sicher fühlen. Don X lebte im Glauben, mit Tino auf verschiedenen Ebenen ins Geschäft zu kommen. Tino hatte ihm von Abenteuerreisen erzählt, die er, zusammen mit Freunden von diesem Dorf aus unternehmen wolle. An diesen Reisen hoffte Don X, der ihm dazu jede Unterstützung zusagte, zu verdienen. Dann war dieses Haus, das Tino kaufen sollte: Aber Don X verlangte etwa 20 000 Franken, einen für die Gegend etwa viermal zu hohen Preis. Tino tat zwar als ob, aber im Grunde genommen interessierten ihn die Geschäfte des Don X nicht besonders.
Die Verwicklungen und Intrigen, die hier dann entstanden, führten schließlich zu Tinos Verhaftung im Januar 1980. Mit den jungen Dorfbewohnern war Tino wie überall schnell bekannt. Da gab es einen jungen Möchtegernkünstler, kaum 20 und dauernd bekifft, der überall aneckte. Weiter gab es ein Mädchen. Dieses Mädchen, eigentlich die Freundin dieses Jungen, hatte ein Verhältnis mit dem Polizisten und schlief eine Zeitlang mit Tino. Der Junge war oft zu Gast bei Tino und da Tino ebenfalls ein leidenschaftlicher Paffer war, sassen sie zusammen im Garten und pafften.
Einen Tagesmarsch flussaufwärts, in einem Gebiet, in dem Indianer lebten, hatte Tino eine Hütte, in die er sich öfters zurückzog. In deren Nähe hatte er, ziemlich verstreut, Marihuana angebaut: Von Pflanzung und Hütte wusste von den Einheimischen nur dieser Junge.
Eines Tages gerieten der Polizist und der Junge wegen dem Mädchen aneinander. Der Junge hatte von ihrem Verhältnis zum Polizisten etwas erfahren und hatte sie deshalb arg bedrängt. Darauf verprügelte der Polizist den Jungen. Inzwischen hatte der Polizist erfahren, dass Tino ebenfalls eine Geschichte mit ihr hatte. Der Junge erzählte dem
Polizisten wo Tino, den alle auf einer Reise glaubten, wirklich war, und dass er dort Grass pflanzen würde.
Die Geschichte mit den Pflanzen wäre weiter nicht so schlimm gewesen, wenn sich gegen Tino nicht eine unheilvolle Allianz zusammengebraut hätte. Don X, Tinos Schutzengel, wurde langsam flügellahm, weil er mit Tino noch nie ins Geschäft gekommen war. Der Vater des Jungen, ortsansässiger Zahnarzt und zweite Dorfgrösse, bangte um seinen Sohn, der wegen seiner Pafferei und seinem Nichtstun in Verruf geraten war und versuchte, diesen zu schützen. Also verschworen sich die beiden Honoratoren zusammen mit dem Dorfpolizisten gegen Tino, der plötzlich Übel über das Dorf gebracht haben sollte und alarmierten mit der Behauptung, Tino hätte eine riesige Marihuana Plantage im Dschungel, die Drogenpolizei in La Paz.
Tino, der von allem nichts wusste, trat eines schönen Morgens vor seine Hütte. Als er die beiden Typen auf sich zukommen sah, war nicht mehr an Flucht zu denken, die Hütte war umstellt. Sie nahmen ihn mit an einen Platz, den der Junge, der ihn kürzlich erstmals zusammen mit dem Mädchen besucht hatte, gekannt hatte. Tino hatte eine böse Vorahnung gehabt, weil sich das Mädchen, unter dem Vorwand, austreten zu müssen, von der Hütte entfernt hatte und aus der entgegengesetzten Richtung zurückgekommen war. Tino hatte später nachgeschaut und am selben Platz, an dem er sich jetzt mit den "Narcotics" - von Amerikanern trainierten Spezialisten - befand, Fusspuren und abgerissene Blätter gefunden. Mit einem Sprung riss er die drei Pflanzen, die an diesem Platz wuchsen, aus und stürzte sich in den Fluss, wo er sie treiben liess. Damit beraubte er die "Narcs" ihres Beweises. Es kam zu einer Schlägerei, in der er unterlag. Trotz intensiver Suche wurden keine weiteren Pflanzen gefunden.
Die "Narcs", die keinen Spass verstanden und mit denen es nichts zu verhandeln gab, nahmen ihn mit nach der Hauptstadt. Beinahe wäre er ihnen auf dem Wege entkommen, als er sich vom offenen Fahrzeug stürzte. In der Hitze des Gefechts hatte einer von ihnen das Gewehr fallengelassen, das Tino, der sich beim Sprung verletzt hatte, in die Hände bekam. Er hätte nur zweimal abdrücken müssen. Er war mit den beiden allein und er hätte ohne weiteres untertauchen können. Aber er brachte es nicht über sich zu schiessen. Wegen seiner Verletzung konnte er nicht mehr fliehen und musste sich ergeben.
In La Paz im Gefängnis begann sich alles in die Länge zu ziehen. Er gab seine Identität preis, Zürich wurde angefragt und stellte Auslieferungsbegehren. Dadurch wurde der Fall für Bolivien wichtig, man meinte, einen grossen Fisch an Land gezogen zu haben. Umgekehrt gab es für Zürich die verschiedensten Gründe seiner habhaft zu werden. Nebst den juristischen Motiven - Tino hatte seine Strafe noch abzusitzen, es gab noch hängige Verfahren - mögen wohl auch politische und persönliche Dinge mitgespielt haben. Tino wäre für die 80er Bewegung ein präventives Exempel gewesen, dass sich Krawall nicht lohnt. Und dann hatte er die Gewohnheit, der Zürcher Polizei immer wieder mit Kartengrüssen eine lange Nase zu drehen.
Tino nahm sich einen Anwalt, der ihm empfohlen worden war und es gelang, die Auslieferungsbegehren abzuwehren. Nun wäre es darum gegangen ihn loszukaufen. Der Anwalt meinte, mit 10000 Schweizerfranken sollte dies möglich sein. Die Schwierigkeit beim Loskaufen besteht darin, dass es nicht reicht, einen einzigen Richter zu schmieren, sondern es geht um eine ganze Hierarchie. Tinos Anwalt war ziemlich jung. Als es im Juli des Jahres 1980 wieder einmal einen politischen Wechsel im Lande gab - General Garcia Meza putschte unter der Übergangsregierung der Lidia Gueiler, noch bevor der schon damals gewählte Präsident Hernan Siles Suazo, sein Amt antreten konnte -, hatte er zu wenig Beziehungen zu den alten Richtern, die unter dieser Konstellation wieder zum Zug kamen. Die Sache wurde immer aussichtsloser.
Das Gefängnis in La Paz war kein Honigschlecken, aber wenigstens war die Isolation kleiner als in Regensdorf: Ein Problem war das Geld. Ohne Geld bist du aufgeschmissen, mit Geld lebst du wie im Hilton. Wenn du eine Decke willst, so brauchst du Geld. Wenn du den Bohnenfrass, der dich Mahlzeit für Mahlzeit würgt, der dich schwächt und der dich krank macht, satthast, dann winke mit einer Banknote und sie bringen dir ein königliches Mahl. Wenn du aber verzweifelst, dann brauchst du Geld und sie bringen dir Sprit, sie bringen dir Shit, sie bringen dir Kokapaste, sie bringen dir H.
Tino war unter den Gringos schnell die Autorität. Die Indios redete er mit Don an, was normalerweise die Weissen nicht tun, und sie redeten ihn ebenfalls mit Don an. Als er dann das Problem mit dem Geld gelöst hatte, kam das Problem mit dem Gift. Das Problem mit dem Sprit und das Problem mit der Paste. In den kokainproduzierenden Ländern wird die Paste, ein Zwischenprodukt, bei der Herstellung von Kokainkristallen, geraucht. Neben der unangenehmen Eigenschaft, dass man fast nicht von ihr lassen kann, bis sie aufgeraucht ist, schadet sie dem Körper. Tino, der die Freiheit über alles liebte, war bald doppelt gefangen. Darüber hat er Briefe geschrieben. Er dachte an das Tal, in dem er siedeln konnte. Er suchte die Ruhe, die Natur, die Freiheit.
So war in ihm der Entschluss gereift, wieder einmal abzuhauen. Und wieder nützte er die Gelegenheit eines Spitalaufenthaltes dazu aus. Der Marsch in die Freiheit führte ihn über den Cumbre-Pass. Auf dieser Höhe sinken in der Nacht die Temperaturen weit unter null. Tino war mit einem Hemd und einer Hose bekleidet, gerade so, wie er das Spital hatte verlassen können. Erst als er die Yungas erreicht hatte, konnte er mit den Früchten, die abgestuft nach Höhe wachsen, seinen Hunger stillen. Die Gesamtstrecke seiner Flucht betrug etwa 300 Kilometer. Vielleicht hat er unterwegs bei Freunden unterkriechen können, aber es müssen mörderische Strapazen gewesen sein, die er durchgemacht hat. Aber es gibt die alten Erzählungen, in denen er todesmutig über Dachrinnen balanciert ist. Es gibt die Geschichten von seinen Motorradunfällen. "Der hatte vor seinem Kopf ein Fenster in eine andere Welt, oft hatte man bei ihm das Gefühl, er sei schon dort", erzählte mir Pfarrer Ernst Sieber.
Nach Tagen der Flucht, muss er angekommen sein, in seinem geliebten Tuttilimundi. Tuttilimundi bedeutete für ihn Freiheit. Er hat Freunden, die ihn im Gefängnis besuchten, von Tuttilimundi erzählt. Das Tal, in dem er siedeln gekonnt hätte, liegt ganz in der Nähe.
Kurz nach seiner Ankunft ist er in Tuttilimundi gestorben. Mitten auf dem Dorfplatz, unter einem Baum. Tino der so gern unter Bäumen sass: Jemand hat mir erzählt, Tino hätte diesen Baum gekannt und sei bereits bei anderen Gelegenheiten hier gesessen.
Auf der Todesanzeige steht: "Heute, den 21. Dezember 1981 haben wir erfahren, dass unser lieber Sohn, Bruder, Schwager usw.; Martin ... in Tuttilimundi an einer Vergiftung gestorben ist. Er wurde dort von seinen indianischen Freunden begraben. Vergiftung - dahinter mag ein letzter Griff zur Flasche stecken, den er sich nach der Flucht gegönnt hat, aber ins Gewicht fallen vor allem die Strapazen. Erschöpfung, Kreislaufkollaps, ein Arzt dürfte wohl nicht dabei gewesen sein. Tino starb 35-jährig.
Tuttilimundi findet sich auf keiner Landkarte. Auch in keinem Ortschaftsverzeichnis. Sogar im Welpostverzeichnis habe ich nachgesehen. In La Paz kann Euch das ebenfalls niemand sagen. Tuttilimundi ein schöner Name. Klingt italienisch und nicht indianisch. Aber vielleicht hiess er ganz anders, bei den Indianern. Und ein Italiener, der dort gesiedelt hat, hat aus den Lauten etwas ähnliches herausgehört, wie Tuttilimundi. Und von da an hat das Dorf ebenso geheissen.
Es heisst, dass einer aus der alten "Lone Star Gang" nach Bolivien gereist sei, um Tino zu suchen, nachdem dieser aus dem Gefängnis türmte. In Tuttilimundi, das er gefunden hat, hätten sie ihn wegschicken wollen. Als sie aber seine Tätowierungen bemerkten, haben sie ihn fragend angeschaut. Und dann sind sie mit ihm auf den Friedhof gegangen und haben ihm ein Grab gezeigt, er ist der einzige, der dieses Grab gesehen hat. Und dann ist er zurückgereist und hat diese Geschichte erzählt.
Tino hatte einen Traumberuf. Im Nahen Osten, pflegte er zu erzählen, da gebe es noch Leute, die würden in der Gesellschaft geachtet, weil "sie kämen, um Geschichten zu erzählen, die Leute würden ihnen Speis und Trank und die Wasserpfeife reichen: Die Geschichtenerzähler könnten davon leben. Und dann würden andere kommen und diese Geschichten hören und würden gehen und, diese Geschichten weitererzählen". Und in Tuttilimundi steht einer an der Bar des Hotel "Latino" und erzählt alte Geschichten aus Irgendwo und überall. Und solltet Ihr einmal dort vorbeikommen ...


Ich fand diesen Text (von Martin Meier) 1989, als ich in der Landesbibliothek Bern nach Artikeln zum Thema "Rocker in der Schweiz" suchte. Er war einer der ersten Texte auf magnolia.ch. Als ich den Text um '99 rum hier reinsetzte, war "Tino" den meisten Leuten kein Begriff mehr, und nur wenige (Merci, Sergius Golowin & Urban Gwerder) konnten mir überhaupt noch etwas von dem "wilden Typen mit dem grossen Herz" erzählen. Darum erschien es mir umso wichtiger diesen "Nachruf" ins Web zu stellen ...


Weiterführende Links zu Tino:

Willy Wottreng (aus Zürich) hat Tinos Geschichte recherchiert und ein Buch unter dem Titel "Tino -Der König des Untergrunds" beim Orell Füssli Verlag veröffentlicht .

Euch allen möchte ich das nun vergriffene
Fotobuch von Karlheinz Weinberger (1921-2006) ans Herz legen, der die Geschichte der Halbstarken in Zürich seit den 50er Jahren mit lebte und fotografisch festhielt. Das Buch ist in guten Bibliotheken zu finden. Ein Ami-Verlag hat die meisten der Bilder im später aufgelegten Buch "Rebell Youth" erneut veröffentlicht.
2014 ist ein umfassender Film von Adrian Winkler "Tino - Frozen Angel" erschienen, voller Interviews mit Tinos Zeitgenossen, genialer Mischung von aktuellen sowie Original-Aufnahmen der Szene mit welcher und der Orte wo Tino lebte. Der Soundtrack von "Roy & the Devils Motorcycles" ist genau richtig. In der Plattenhülle ist der Film gleich mit dabei, unbedingt reinziehen bei voodoorhythm.com