Jacob Holdt - Brief an einen amerikanischen Freund
Vom "Ja-Sagen"
Ich kenne keine größere Freiheit als die, ja sagen zu können,
sich jedem Menschen, dem man begegnet, in die Arme werfen zu können.
Besonders als Vagabund hat man die Freiheit, Kraft und Zeit, jedem einzelnen
gegenüber ganz Mensch zu seín.
Trampen ist die phantastíschste Lotterie, die ich mir vorstellen
kann. Jedes Los gewinnt. Von jedem Menschen kann man etwas lernen. Ich
habe nie eine Einladung einzusteigen abgelehnt - auch nicht, wenn Pistolen
suf dem Vordersitz lagen oder vier unheimlich aussehende Männer mit
dunklen Brillen im Wagen saßen. Jeder Mensch ist wie ein Fenster,
durch das man einen Blick auf die Gesellschaft werfen kann. Ein Mann in
New York bat mich, einen Fernlaster nach Florida hinunter zu fahren.
Er wollte mir nicht sagen, was er geladen hatte. Wir vereinbarten, daß
ich sechzig Dollar bekommen sollte, aber das Geld sah ich nie. Auf Umwegen
erfuhr ich, daß ich für die Mafia gearbeitet hatte. Sie nahm
für solche illegalen Transporte von Rauschgift etc. am liebsten einen
naiven Ausländer. Oder hatte ich vielleicht Waffen für die Exilkubaner
in Mìami gefahren?
Ein andermal bat mich eine arme alte Frau von 87 Jahren in Alabama, sie
nach Phoenìx, Arizona,zu fahren. Sie wollte dort sterben. Ich half
ihr, dìe Fenster ihrer verfallenen Hütte außerhalb von
Ttxskeegee mit Brettern zu vernageln, denn obwohl sie wußte, daß
sie nie zurückkehren würde, wollte sie doch nicht, daß
die Schwarzen aus der Gegend dort einzogen. Während der ganzen Fahrt
saß sie mit der Pistole in der Hand da. Sie hatte eine Heidenangst
vor mir wegen meiner langen Haare und meines Bartes, aber es gab für
sie keine andere Möglichkeit, nach Arizona zu kommen. Sie war so
schwach, daß ich sie tragen mußte, sooft sie den Wagen verließ,
aber ihre Pistole behielt sie fest in der Hand. Der Wagen war so alt,
daß wir nur 50 Kilometer in der Stunde schafften; daher dauerte
die Reise vier Tage. Sie hatte jahrelang gespart, um genug Geld für
Benzin zu haben, aber sie hatte kein Geld für Essen, so daß
ich unterwegs einige Male aussteigen und Karotten und andere eßbare
Dinge stehlen mußte. Die meiste Zeit sprach sie von Gouverneur Wallace
und von ihrer Hoffnung, daß er noch Präsident wurde, bevor
sie starb. Ich erfuhr auf dieser Fahrt mehr über Alabama, als ich
in meinem ganzen Leben aus Büchern hätte lernen können.
In Florida nahmen mich zwei junge Frauen mit und boten mir Brownies (kleine
Schokoladekuchen mit Nüssen) an, Da ich sehr hungrig war und auf
dem Rücksitz saß, nutzte ich die Gelegenheit und aß vier
ganze Brownies. Ich esse immer alles, was die Leute mir geben, auch Tabletten
oder Erde oder noch Schlimmeres. Und jedesmal erhalte ich einen Einblick
in die Gesellschaft. So geschah es auch an diesem Tag. Es stellte sich
heraus, daß die Brownies Hasch enthielten, und ich hatte viel zu
viel davon gegessen. Ich war vollkommen berauscht und konnte an diesem
Tag nichtweitertrampen, da ich unfähig war, mit den Fahrern zu '
sprechen.
Ich ging nach Jacksonville hinein und setzte mich in einen Park, um zu
warten, bis ich wieder normal war. Zwei harmlose Landstreicher setzten
sich zu mir, und plötzlich hatte ich eine furchtbare Angst vor ihnen
und rannte in die Bus-Station. Ich wagte mieh nicht mehr auf die Straße,
am hellichten Tag nicht. Das Haschisch hatte mich extrem paranoid gemacht,
und gerade wenn man förmlich Angst auf andere Menschen ausstrahlt,
wird man überfallen. An diesem Tage verstand ich die quälende
Angst, mit der die meisten Amerikaner täglich leben, ohne etwas dagegen
tun zu können. Seitdem hatte ich mehr Verständnis für die
Reaktionen der Menschen in Amerika. Manchmal habe auch ich Angst vor anderen
Menschen.
Eines
Abends in New York hörte ich eine Stimme, die mich aus einer dunklen
Gasse rief, in der unheimlichen Gegend um die 9th Avenue herum. Ich war
fest davon überzeugt, daß man mich überfallen würde,
wenn ich hineinginge. Aber noch mehr fürchtete ìch, einen
Präzedenzfall zu schaffen, wenn ìch nìcht hìneinging,
und dann wäre ich ìn Zukunft vor Angst gelähmt gewesen
wìe so viele ìn Amerika. Ich zwang mich also, die Gasse
zu betreten. Natürlich war es nichts weiter als ein heruntergekommenes
Fünfdollar-Straßenmädchen. Das bewies mir wieder einmal,
daß es nie schadet, ja zu sagen. In der Regel wird man direkt dafür
belohnt.
In Detroit fragte mich ein fünfjähriger Junge immer und immer
wieder, ob ich nicht mit ihm nach Hause gehen und ein paar Aufnahmen von
seiner Mutter machen wolle. Ich hatte an diesem Tag wirklich keine Zeit,
aber dann entschloß ich mich, trotzdem mitzugehen. Als wir zu ihm
nach Hause kamen, lag seine Mutter krank im Bett, und vier von seinen
sieben Geschwistern hatten große Rattenbisse auf dem Rücken
und an den Beinen. Ich hatte Schwarze oft von Ràtten sprechen hören,
die so groß wie Katzen sind. Diese unglaubliche Entdeckung lehrte
mich wieder, solchen Gerüchten in der Unterschicht ebenso zu trauen
wie den einzelnen Menschen.
Anfangs empfand ich es als Schwäche, nicht nein sagen, den Menschen
nichts abschlagen zu können, denn ich war immer sehr nachgiebig,
Aber nun bin ich davon überzeugt, daß es eine Stärke ist,
und daher habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, wo immer ich bin. Das
ging auf Kosten meiner Fähigkeit zu wählen, und ich bin so weit
gekommen, daß ich fast nicht rnehr imstande bin, eine Wahl zu treffen.
Wenn ich per Anhalter unterwegs bin, werde ich beinahe jeden Tag von einem
Fahrer in ein Restaurant eingeladen. Man gibt mir die Speisekarte, aber
es ist mir unmöglich, etwas auszusuchen. Nach einer peinlich langen
Pause schlägt der Fahrer gewöhnlich etwas vor, und ich sage
sofort ja. Es ist mir völlig gleichgültig, was man mir auf den
Tisch stellt. Essen ist nur ein Mittel, am Leben zu bleiben.
Ich habe entdeckt, daß sogar die Unfähigkeit zu wählen
ihre Vorteile hat, wenn man unterwegs ist. An dem Tag, an dem ich die
großen Plantagenhäuser in Mississippi nach einem Aufenthalt
von zwei Wochen verließ, kam ich noch am selben Abend bei einem
schwarzen Zuhälter in Greenville unter, in dem von der Armut heimgesuchten
Deltagebiet. Wir wurden gute Freunde, und er sagte, er werde mir um unserer
Freundschaft willen eine seiner Prostituierten geben. Ich sagte nichts
dazu. Er nahm mich mit in eine Bar, in der vier seiner Mädchen herumstanden.
"Such dir die Mieze aus, die dir am besten gefällt; du kannst
sie umsonst haben«, sagte er. Ich liebe schwarze Prostituierte mit
ihrer phantastischen Mischung aus heftiger Brutalität und sanftester
Zärtlichkeit. Man kann von einer schwarzen Prostituierten an einem
Tag mehr über die Gesellschaft lernen als aus zehn Vorlesungen an
einer Universität. Aber ich konnte mich einfach nicht entscheiden.
Da nahm mich Ed, so hieß er, wieder mit nach Hause. Von diesem Augenblick
an war er offenherziger, und es kam heraus, daß er mich auf die
Probe gestellt hatte.
Was ich ihm erzählte, interessierte ihn, aber er hatte noch keinen
Weißen kennengelernt, dem er trauen konnte, und er hatte sehen wollen,
ob ich wie die anderen Weißen in Mississippi sei. Diese Nacht wurde
zu einem der intensivsten Erlebnisse, die ich je hatte. Wir lagen beide
in dem Bett, das er sonst für seinen Geschäftsbetrieb benutzte,
und er sprach die ganze Nacht von seiner Kindheit. Für mich war das
alles wie eine Offenbarung. Ich war damals zum erstenmal in Mississippi
und war vermutlich gerade deshalb so stark beeindruckt, weil ich eben
zwei Wochen in den großen Plantagenvillen mit ihren prächtigen
Kleidern im Stil der Zeit vor dem Bürgerkrieg und dem Gold und dem
Prunk überall hinter mir hatte. Er erzählte mir von dem Hunger,
und wie er seit seinem sechsten Lebensjahr hatte Baumwolle pflückenmüssen
und nie richtig zur Schule gegangen war, weil er auf den Feldern arbeiten
mußte. Und er sprach von all den Demütigungen, die er von den
Weißen hatte hinnehmen müssen. Nun wollte er nicht mehr.
"Verdammt, nein", sagte er immer wieder. Er wollte aus der Baumwollhölle
herauskommen, und so war er Zuhälter geworden. Er und seine Mädchen
waren sich darüber einig, daß es besser war, sich so zu prostituieren
als auf den Baumwollfeldern. Den Gewinn steckt in beiden Fällen der
Weiße ein, aber so verdienten sie mehr: fünfzehn Dollar pro
Nacht und Mädchen. Er hatte die Weißen sein Leben lang studiert,
jede ihrer Gesten, jeden ihrer Gedanken. Er glaubte, den Weißen
besser zu verstehen als sich selbst - und verstand ihn doch nicht. Aber
seine Erfahrungen hatten einen guten Zuhälter aus ihm gemacht, obwohl
er erst neunzehn Jahre alt war. Er wußte genau, wie er es anstellen
mußte, um weiße Männer mit seinen Mädchen zusammenzubringen,
aber es schmerzte ihn, das tun zu müssen. Er hatte das Gefühl,
daß er seine Rasse und seinen Stolz verkaufte, aber es blieb ihm
keine andere Wahl. Er haßte den Weißen aus ganzem Herzen,
wagte es aber nie zu zeigen.
In dieser Nacht wurde mir eines klar: Wenn viele Schwarze in Mississippi
wie Ed fühlen, muss einmal ein Tag kommen, an dem es nicht gut steht
um die Weißen. Ich war nach dieser Nacht so erschüttert, daß
ich Weißen in den nächsten Tagen nicht in die Augen sehen konnte.
Bevor ich zu Ed kam, hatte ich Glück gehabt, und jemand hatte mir
Batterien für meinen Kassettenrecorder geschenkt. Ich konnte daher
vieles von dem, was er mir in dieser Nacht erzählte, auf Band aufnehmen.
Wenn ich jetzt unter Weißen in Mississippi reise und bei ihnen wohne,
höre ich mir abends oft das Band an. Ich möchte es vermeiden,
mich zu sehr mit ihren Anschauungen zu identifizieren. Mit ihrem charmanten
Akzent und ihrer großen menschlichen Wärme können sie
einen nur zu leicht verführen. Man muß einen kühlen Kopf
bewahren in diesem siedenden Hexenkessel des Südens.
Ich betrachtete es als einen Zufall, daß Ed sich mir gegenüber
aussprach, denn ich wäre anfangs lieber mit den Prostituierten zusammengewesen.
Aber nun beginne ich zu glauben, daß es kein Zufall war. Es ist,
als führte mich immer etwas in die richtigen Situationen.
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