EINE KLEINE TOUR DURCH EINIGE SEINER BILDER
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DER DÄNE JACOB HOLDT TRAMPTE ENDE DER SECHZIGER JAHRE DURCH DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA,
UND HIELT SEINE EINDRÜCKE UND ERLEBNISSE MIT DER KAMERA FEST
- UNTER ANDEREM ,WEIL ER DACHTE, DIE LEUTE ZUHAUSE WÜRDEN IHM SONST SEINE ERSCHÜTTERNDEN NICHT GLAUBEN

BRIEF AN DIE ELTERN:
(Aufgrund dieses Briefes und anderer schickten mir meine Eltern die schon erwähnte Kamera, damit ich die erschütternden Dinge, die sie kaum glauben konnten, im Bild festhielt.")

Lieber Vater, liebe Mutter,
dies ist das erschütterndste Ostern, das ich je erlebte.Ich bin nun in Detroit, und diese Stadt ist ein regelrechter Alptraum. Auf dem Weg von San Francisco hierher habe ich in Chicago haltgemacht, um Denia zu besuchen, die junge schwarze Schriftstellerin, bei der ich zu Weihnachten wohnte. Schon dort begann der Schrecken. Erinnert Ihr Euch an die zwei ihrer Freundinnen, mit denen sie und ich so oft zusammen waren? Sie sagte mir, daß eine von ihnen, Theresia - dieses sanfte, stille Mädchen von 19 Jahren -, inzwischen ermordet worden war. Sie wurde wahrscheinlich von Bekannten getötet, denn es sieht so aus, als hätte sie ihren Mördern selbst die Tür geöffnet. Sie wurde von ihrem Verlobten gefunden - erschossen und mit Messern aufgeschlitzt. Sie ist schon der zweite Mensch unter meinen Bekannten in Amerika, der ermordet wurde. Denia hat sich jetzt eine Pistole gekauft und macht Schießübungen. In dieser Nacht in Chicago erlebte ich auch meine erste große Schießerei, wahrscheinlich zwischen Polizei und Verbrechern. Wir machten gerade einen Besuch in der Mohawk Street, als es plötzlich unten in der Dunkelheit losging. Ich wollte hinaussehen, aber Denia zog mich vom Fenster weg. Doch das alles habe ich angesichts der Dinge, die hier in Detroit geschehen sind, beinahe vergessen. Zuerst wohnte ich bei einer gutsituierten Automobilarbeiter-Familie in einem der respektablen schwarzen Viertel an der Siebenmeilen-Grenze, weit draußen, wo die weißen Viertel beginnen. Der Sohn hatte mich im Wagen mitgenommen und nach Hause eingeladen. Das war nun die dritte schwarze Familie,bei der ich wohnte. Wunderbare Menschen. Am Ostermorgen nahmen sie mich mit in die Kirche. Aber dann zog ich zu drei Studenten in das Getto, und seither lebe ich in einem Alptraum. An einem der ersten Tage wurde Thigpen ermordet, dem ich gerade erst vorgestellt worden war. Er war ein phantastischer Mensch, groß wie ein Bär und ein Dichter (ich schicke Euch seine Gedichtsammlung Down Nigger Paved Streets). Ofienbar nur weil er ein harmloses Gedicht über den Rauschgifthandel in der Stadt geschrieben hatte, wurde er zusammen mit zwei Freunden von Rauschgiftgangstern hingerichtet. Sie wurden gefesselt, auf den Boden gelegt und durch Schüsse in den Hinterkopf getötet. Was mich aber am meisten schockierte, war die Reaktion der drei, mit denen ich zusammenlebe. Einer von ihnen, Jeff, hatte Thigpen jahrelang gekannt, und er ist mit ihm zusammen auf der Rückseite des Buches abgebildet. Aber Jefi kam eines Morgens ganz ruhig mit der Zeitung herein und sagte: "Erinnerst du dich an den Stutzer Thigpen, den du neulich kennengelernt hast? Den haben sie auch fertiggemacht. " Der Vorfall machte keinen größeren Eindruck auf die drei. So reagieren sie auf all diese Gewalttätigkeit, und damit werde ich nicht fertig. Trotzdemhaben sie selbst Angst. Nicht nur ich zittere hier vor Angst. Nachts ist es am schlimmsten. Ich bin allmählich schon ganz krank vor Schlafmangel. Jeff und die beiden anderen schlafen oben, und ich bleibe im Wohnzimmer. Jeden Abend schieben sie den Kühlschrank vor die Tür und stellen leere Flaschen darauf, so daß bei einem Versuch, die Tür zu öffnen, die Flaschen herunterfallen und sie oben wecken. Eines Nachts sprang die Katze auf den Kühlschrank und stieß die Flaschen um, und ich war mit ein paar Sätzen oben bei den anderen. Ich bin schon ein nervöses Wrack und liege ständig da und horche auf Schritte draußen (denn außer Räubern wagt es in Detroit kaum jemand, zu Fuss zu gehen). Ab und zu höre ich draußen Schüsse. Ich habe vorher nie wirklich gezittert, aber jetzt wird mir oft so schwach wie in der Nacht in San Francisco, als ich niedergeschlagen wurde. Mein Herzklopfen allein genügt, um mich wachzuhalten.




Ich dachte tatsächlich, ich hätte die ganze Woche kein Auge zugetan, bis ich plötzlich aus einem furchtbaren Alptraum erwachte. Ich träume jetzt auf meiner Reise beinahe nie, aber in jener Nacht träumte ich von einem sonnigen Tag, als ich elf Jahre alt war und im Wohnzimmer daheim im Pfarrhaus auf dem Boden lag. Ich erinnere mich, daß ich dort lag und Orangen aß, als in den Rundfunknachrichten die Ermordung Lumumbas gemeldet wurde. Damals verstand ich noch nichts, aber ich erinnere mich lebhaft daran. Diese Szene sah ich nun in meinem Alptraum deutlich vor mir, aber sie verwandelte sich, und ich lag irgendwo in Afrika auf dem Boden, während einige Afrikaner eine Maschinengewehrsalve nach der anderen auf mich abfeuerten. Ich rief ihnen zu, sie sollten aufhören, aber die Kugeln bohrten sich weiter in mich hinein. Ein schreckliches Erlebnis. Dann kam ich zu mir und befand mich in dem wirklichen Alptraum Detroits, der mir vergleichsweise friedlich vorkam, und ein wenig später konnte ich noch ein paar Stunden schlafen. Aber die Alpträume lösen sich nicht immer auf, wenn der Tag anbricht. An einem der ersten Tage wagte ich mich zu Fuß auf die Straßen hinaus. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als auch schon ein Streifenwagen hielt, in dem zwei weiße Polizisten saßen. Sie riefen mich zum Wagen. Ich war beinahe glücklich, wieder einmal weiße Gesichter zu sehen, und ging hinüber. Sie wollten nur meinen Personalausweis sehen. So wird man ständig angehalten, wenn man im Getto umhergeht. Ich frage mich oft, was für ein Unterschied wirklich zwischen einem Schwarzen hier und einem Schwarzen in Südafrika besteht, wenn man ständig weißen Polizisten seinen Identitätsausweis zeigen muß. Ich fuhr also beinahe automatisch mit der Hand in meine Umhängetasche, um den Paß herauszuholen. Im nächsten Augenblick hielten mir die Polizisten ihre Pistolen direkt vors Gesicht. "Keine Bewegung!« Es ist ein schreckliches Erlebnis, in die Mündung einer Pistole zu blicken, und ich begann vor Angst zu zittern. Es geschah aber gar nichts. Sie hatten nur befürchtet, ich könnte eine Pistole in meinem Beutel haben. Für rüich war es ein Wunder, daß ihre Pistolen nicht losgegangen waren. Wie können Menschen in einer solchen Welt leben, wo sie so wenig Vertrauen zueinander haben? Sie gaben mir die übliche Warnung: »Verschwinden Sie so schnell wie möglich aus dieser Gegend!« Ich hatte mein Selbstvertrauen wiedergewonnen und antwortete mutig: "Ich wohne hier!" je länger ich hier lebe, desto mehr sehe ich die Weißen mit den Augen der Schwarzen, und unwillkürlich hasse ich sie immer mehr. Es ist ein seltsames Gefühl, in einer Stadt wie Detroit zu leben, wo man um sich her nichts als schwarze Gesichter sieht. Nach und nach macht man einen Wandel durch. Die schwarzen Gesichter erscheinen einem nah und vertraut, die weissen dagegen fern und unbekannt und daher kalt. Trotz all der entsetzlichen Dinge habe ich ganz gewiß nicht den Wunsch, in die kalten eisigen Wüsten dort, wo das Getto endet, hinauszugehen. Ihr könnt daher vielleicht den Schock' verstehen,. den man jedesmal erlebt, wenn man den Fernsehapparat einschaltet und plötzlich nichts als weiße Gesichter sieht. Ja, auf eine seltsame Weise werden die weißen Gesichter zu einem wesentlichen Teil des Alptraums von Detroit. Denn nicht nur das Verbrechen hält mich nachts wach. Auch das Fernsehen und das Radio tragen das ihre dazu bei. Überall in den Gettos von Detroit und Chicago haben die Schwarzen die Gewohnheit, den Fernsehapparat und das Radio die ganze Nacht laufen zu lassen, damit Einbrecher glauben, man sei noch wach. Dazu kommt, daß sie sich allmähliçh so sehr daran gewöhnt haben, mit laufenden Fernseh- und Radioapparaten zu schlafen, daß dieses Geräusch zu einer Art von Narkotikum für die Menschen wurde, ohne das sie nicht einschlafen können. Ich entdeckte es eines Tages in Chicago, als Denia und ich ein Mittagsschläfchen halten wollten und sie automatisch das Fernsehen einschaltete, um einschlafen zu können. Es ist schlimm, wie früh sie von diesem Geräuschnarkotikum abhängig werden. Als ich bei einer jungen schwarzen Mutter in Jackson, 80 Kilometer außerhalb von Detroit, wohnte, stellte ich fest, daß es für uns beinahe unmöglich war zusammenzuleben. Wenn wir zu Bett gingen, schaltete sie immer das Radio ein. Ich lag dann da und wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann versuchte ich, den Apparat leiser z stellen, da es sonst für mich absolut unmöglich war einzuschlafen. Aber jedesmal, wenn ich die Lautstärke bis zu einem gewissen Grad gedrosselt hatte, wachten ihre beiden Kinder von zwei oder drei Jahren auf und fingen an zu weinen, so daß ich sofort wieder die volle Lautstärke einstellen mußte. Unsere Naturen waren eben, wie die Frau sagte, "kulturell unvereinbar". Ich glaube aber, es hat schreckliche Folgen, wenn alle Schwarzen in den städtischen Gettos gleichermaßen von diesem Lärm abhängig werden. Ihr in Dänemark könnt Euch einfach nicht vorstellen, wie primitiv der amerikanische Rundfunk ist. Die ewige BummBumm-Musik wird alle zwei Minuten von den sogenannten "Botschaften"unterbrochen. Und immer wieder hört man die einschläfernde Botschaft: "Überlaßt das Steuer uns."



"Das Ganze nimmt sich aus wie eine einzige große weiße Verschwörung gegen die Schwarzen. Wie man die Bevölkerung Südvietnams durch Bomben in den »strategischen Dörfern« zusammentreibt, um eine Gehirnwäsche vorzunehmen, so scheint es beinahe, als hätte man in den Vereinigten Staaten die Schwarzen aus den kleinen Dörfern vertrieben und in diesen großen psychischen Konzentrationslagern zusammengepfercht, wo man sie mit Hilfe der Massenmedien besser unter Kontrolle halten kann. Es ist unglaublich, wie sehr sie sich als Folge dieser Unterdrückung beinahe buchstabengetreu allen Anschauungen ihrer Unterdrücker anpassen. Im Süden konnte man wenigstens denken, aber hier wird man ständig mit dem bombardiert, was man nach dem Wunsch anderer denken soll - oder besser, was man nicht denken soll. Ersticken diese Musik und dieser ganze Lärm nicht die Fähigkeit der Schwarzen zu einer unabhängigen und geistigen Entwicklung? Es ist seltsam, daß viele von ihnen - wie sie selbst im Scherz sagen - tatsächlich wie Zombies wirken. Die drei, bei denen ich wohne, gehören zu den wenigen politisch aktiven Menschen in Detroit. Jeff hat mir einige Bücher über Kuba gegeben, die ich lesen soll. Aber für mich ist es unmöglich, in dieser Umgebung zu lesen - mit all dem Lärm, der Nervosität, dem Zittern und der Furcht vor etwas, wovon man nicht einmal weiß, was es ist. Jeff ist einer von den immer zahlreicher werdenden Schwarzen, die über Kanada illegal nach Kuba gereist sind. Er erzählt darüber so viele phantastische Dinge, und ich.höre ihm zu, aber vieles davon erscheint mir in dieser grausamn Umgebung so unbedeutend. Er sagt, in Kuba habe er zum erstenmal frei geatmet. Alle Kubaner seien bewaffnet wie die Menschen hier in Detroit, aber dennoch habe er in Kuba nie Angst gehabt. Das einzige, was ihn enttäuschte, war, daß die kubanischen Schwarzen das Haar noch nicht im AfroLook tragen. Er war in Kuba so glücklich, daß er alles versuchte, um nicht in die Vereinigten Staaten zurückgeschickt zu werden, aber man erlaubte ihm nicht zu bleiben. Nun, nach der Reise, hatte er Probleme mit dem FBI, das zweimal seine Eltern aufsuchte. Er bekam plötzlich keine Studienbeihilfe mehr und wurde vom College verwiesen. Daher wurde er Taxifahrer, und nun lebt er in seiner eigenen Traumwelt und liest im Taxi Bücher über Kuba. Er erzählte mir lachend, daß er sich vor einigen Wochen selbst »überfallen« hat. Da Taxifahrer ständig überfallen werden, »raubte« er sich selber 50 Dollar, rief die Polizei, behauptete, der Räuber sei ein Schwarzer, sehe so und so aus und sei in der und der Richtung davongerannt. Er brauchte an diesem Tag nicht mehr zu arbeiten und fuhr nach Belle Isle hinaus, um seine Bücher über Kuba zu lesen. Leider will er von seinen Erfahrungen keinen Gebrauch machen, um hier in Detroit politisch zu arbeiten. Er meint, das System sei so massiv und oppressiv, daß es keinen Sinn habe. Er setzt nun alles daran, wieder nach Kuba zu kommen. In zwei Tagen will er allerdings nach Washington gehen, um gegen den Vietnam-Krieg zu demonstrieren. Man erwartet eine Million Menschen. Wir werden zusammen hinfahren. Ich kann es kaum erwarten, aus dieser Hölle hinauszukommen, und hoffe nur, daß es in Washington friedlicher ist, damit ich ein wenig Ruhe finden kann. Aber ich muß nach Detroit zurückkehren. Wie in Chicago habe ich auch hier so warmherzige Menschen gefunden, daß ich ihre Güte mir gegenüber nicht fassen kann. Ich verstehe nicht, wie in zwei so grausamen Städten so großartige Menschen leben können. Ich muß imstande sein zu lernen, mit dem Getto zu leben, denn ich muss zu diesen Menschen zurückkehren. Ich werde aber noch lange brauchen, um mich an die Lebensbedingungen zu gewöhnen. Jeff und die beiden anderen trauen sich nicht, anderthalb Häuserblocks weit zu Fuss zu gehen! Ich werde Detroit als Fahrt durch eine Geisterstadt zu den Klängen des neuesten Schlagers der Schwarzen in Erinnerung behalten: »Um Gottes willen, gebt dem Volk mehr Macht.« Und dann jeden Tag die Mordstatistiken. In der Osterwoche wurden nur 25 Menschen ermordet. Bis Weihnachten rechnet man mit 1000 Mordopfern. Haben die dänischen Zeitungen von dem stigmatisierten schwarzen Mädchen in Oakland berichtet, das während der Osterfeiertage blutete? Ich hoffe, Ihr hattet ein friedlicheres Ostern.
Jacob
Aufgrund dies Briefes und anderer schickten mir meine Eltern die schon erwähnte Kamera, damit ich die erschütternden Dinge, die sie kaum glauben konnten, im Bild festhielt.